Vortrag in der ACC Galerie, Weimar, 22.4.2014
KALTER KRIEG IM SUBMEDIALEN RAUM
"Hotel
Kilo" hieß im kalten Krieg ein Störsender des BND, der auf der
Frequenz von Radio Moskau sendete. Störsender werden oft als Teil
des Zensur- und Propaganda-Apparats totalitärer Staaten genannt.
Doch auch das Fernsehen der DDR und der Rundfunk der DDR waren in der
BRD -selbst im Zonenrandgebiet- nur schwer zu empfangen und durch
Interferenzen gestört. Das fiel mir als radiofixierter Junge in den
1980ern bei Besuchen bei Oma im Zonenrandgebiet bei
Lüchow-Dannenberg auf. Ich habe keine Beweise dafür, aber ich bin mir sicher, dass
in unmittelbarer Nähe der DDR-Grenze das Fernsehen/ Radio der DDR
hätte besser zu empfangen sein müssen. Auf der Stimme der DDR lag ein weisses Rauschen, auf ein Kessel Buntes rieselte leise der Schnee.
In dieser Zeit hörte ich natürlich gerne das Radio-Programm der BFBS, die einzige Quelle für alternative Musik der Post-Punk Ära. Ein Stück, das wie kein Zweites in diese Zeit passt, ist Computerwelt von Kraftwerk, das damals auch ab und an im Radio lief. Es beschrieb die Rätsel und Tabus hinter nicht identifizierbaren Daten. Es war die Zeit des nuklearen Patts, der Volkszählung, und der Beginn des digitalen Datenverkehrs. Im Radio tobte der Ätherkrieg: Oft gefiel es mir damals, einfach die Sender der Kurzwelle zu durchforsten. Das war eine tolle Beschäftigung an grauen Tagen in der niedersächsischen Provinz. Wenn die Wolken niedrig hingen, war der Empfang oft gut und man konnte auf Safari gehen: Sender aus Russland, Finland, Polen und in Sprachen, die ich nicht einordnen konnte. Eine bei mir besonders beliebte Station war der Deutsche Seewetterdienst. Ich wartete immer darauf, dass irgendwas mit Windstärke 5 oder 9 kam. Dann sagte die Frau immer: "Fünnef" oder "Neuen", weil das wohl besser zu verstehen sei. Auf Kurzwelle so üblich. Irgendwann landete ich bei einem Sender, da sagte eine Stimme ebenfalls "Fünnef" und noch viele andere Zahlen. Manchmal irgendwas in Richtung "Tango, Foxtrott, Delta, Lima, Charly...", dann Zahlenreihen. Dazwischen monotone Tonfolgen, Piep- oder Brummtöne. Ansonsten keine Informationen. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es sich dabei um sogenannte "Zahlensender" handelte. Diese waren im kalten Krieg Sender des Militärs, von Agentennetzwerken oder diplomatischen Diensten. Sie übermitteln geheime Informationen, Lageberichte und Einsatzbefehle. Auch heute noch gibt es solche Sender.
In
Russland gab es auch einige solcher Zahlensender, der sagenumwobenste ist
UVB-76, genannt "The Buzzer". Sein Zweck wurde öffentlich
nie geklärt. Wir können darüber nur Vermutungen anstellen. UVB-76 sendete, wie viele der mysteriösesten Stationen nur
Brumm- oder Pieptöne, gelegentlich unterbrochen von sich wiederholenden Sprachmeldungen; Zahlen und Buchstabencodes, die sich über
Jahrzehnte nicht veränderten. Um UVB-76 rankten sich allerhand obskure Theorien. Die Gruseligste ist wohl die der "toten Hand". Diese besagt, dass der Sender die Funktion eines
Totmannschalters erfüllt. Dieses kennt man beispielsweise aus der
Lokomotive. Hier muss der Fahrer alle paar Sekunden auf einen Schalter
drücken, sonst wird der Zug automatisch gebremst. Für den Zahlensender
besagt die Theorie, dass ein Ende des Funksignals einen atomaren
Zweitschlag auslösen sollte. Würde also die UdSSR von Atomraketen
angegriffen und die militärische Führung abgeschnitten oder
getötet, löste sich automatisch der Zweitschlag.
Ob das stimmt oder nicht, kann niemand mit Gewissheit sagen. Aber der Verdacht beflügelt die Phantasien und vereinigt, wie so oft Fakt und Fiktion im "sub-medialen Raum". Mit diesem Terminus beschreibt der russische Philosoph Boris Groys, dass sich hinter dem sichtbaren Zeichenraum, ein unsichtbarer Raum dunkler Geheimnisse verberge. In seinen Worten also: "dass sich hinter allem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbirgt, das als Medium dieses Sichtbaren fungiert".
Das Symptomatische für das Verhältnis der Menschen Anfang der 1980er Jahre zur Medien-, Kommunikations-, und Informationswelt lag in jenem, nach Edward Snowden aktualisierten, Verdacht des Unheils der digitalen, bzw. codierten Nachrichtenwelt gegenüber der analogen Welt. Was auch Kraftwerk in ihren Song „Nummern“ und „Computerwelt“ einarbeiten, war die Gewissheit einer gegenwärtigen und greifbaren medialen Realität, einer Kommunikation, deren durch die Zeichen selbst versiegelter Inhalt gleichsam Enigma und Tabu ist. Dass also (in den 1980ern wohlgemerkt in einer völlig anderen geopolitischen Situation) die Großmächte als abgeschottete Entitäten an den Menschen vorbei kommunizierten in einer codierten Geheimsprache, auf welche der gewöhnliche Mensch mit seinen Öffentlichkeitsapparaten keinen Einfluss nehmen konnte, betonierte das Gefühl des Ausgeliefert-Seins: Maschinen lenkten das Schicksal der Welt. Apparatschiks drückten in blindem Gehorsam nur noch die Knöpfe. Die Befehlsgewalt hatte Dr. Strangelove oder gar eine außer Kontrolle geratene Maschine, die von Menschenhand nicht mehr aufgehalten werden kann.
Dieses
Verhältnis führte zu einer Skepsis gegenüber Maschinen und
maschinen-basierter Datenerhebung, die in mancherlei kulturellem
Erzeugnis die Feindschaft von Menschengeschlecht und Maschinen
imaginierte und Filme, wie den Terminator von Ridley Scott
hervorbrachte. Auch der Song „Computerstaat“ der Hamburger
Punkband Abwärts zeugte von dieser Entfremdung. In der
bundesrepublikanischen Öffentlichkeit führte die Angst vor
Maschinen- und Geheimdienstkontrolle zum Volkszählungsboykott und
den dazugehörenden Demonstrationen.
Blickt
man im Zeitalter von sozialer Netzwerke auf das zurück, wogegen sich
die Bürgerbewegung in jener Zeit wehrte, kommt einem die Leichtfertigkeit, mit der
man jahrelang soziale Netzwerke und ähnliches mit intimsten
Informationen und sensibelsten Metadaten fütterte, geradezu
wahnsinnig vor. Erst die NSA-Affäre brachte bei Öffentlichwerdung
einen erneuten Einbruch von Skepsis in das Verhältnis von Mensch und
Information. Doch wer heute von Vertrauensbruch spricht, sollte sich
vielleicht zunächst fragen, wie es überhaupt erst zu einem Vertrauen
kommen konnte.
Beides,
das Vertrauen wie das Misstrauen bauen auf dem Verdacht auf:
Einerseits, dass das Netz sicher sei, dass die Technologie die
Privatheit der Menschen schützen könne und dass Staat und die
Firmen, deren Kunde man ist, diese Privatsphäre respektierten.
Andererseits das fatalistische Gegenbild: Einer
omnipräsenten Überwachung sei mehr zu entkommen und
Spione lauerte überall. Doch das neue Gefühl des
Ausgeliefertseins unterscheidet sich von der Situation in den 1980er
Jahren aber in einem besonders: Die damalige Disziplinargesellschaft
und das lineare Kräfteverhältnis der Welt machten den den „Big
Brother“ benennbar. In der heutigen Kontrollgesellschaft ist eine
solche Adressierbarkeit von Kritik nur noch schwer vollziehbar. Ob
und welche Staaten, welche Firmen, Verbrecher-Syndikate,
Marktforschungsinstitute und Web-Dienste für Datengebrauch und
-mißbrauch verantwortlich seien -wer könnte es in einer Welt
potenziell überall lauernder Feindlichkeit noch mit Sicherheit
sagen?
"Die
Verbotenen Aufnahmen" von Jean-Teddy Philippe war eine
Kurzfilmreihe, in der vermeintliche Amateuraufnahmen (angebl. von
1940-1980) von Übernatürlichem, Unerklärlichem und Mysteriösem
berichteten.
Schon der Titel diese Films deutet an, die Wahrheit der Bilder könnte im submedialen Raum zu finden sein. Dieser Raum erscheint so unergründlich, die darin verborgenen Wahrheiten so brisant, dass die Filmaufnahmen "verboten" sein. Dies suggeriert eine mediale Verschwörung, welche die Existenz von Außerirdischen, bizarre militärische Experimente und allerhand Paranormales zu verschleiern sucht.
In Wahrheit handelte es sich um ein fiktives Filmprojekt, dass mit dem Verdacht des Publikums und einem gebrochenen Verhältnis zur medialen Realität spielt. Das funktioniert bis heute ebenso gut wie die Mondlandungsverschwörung. Wer einmal bei youtube nach Beweisvideos dafür sucht, dass die Mondlandung nie stattgefunden hat, der kann hier fündig werden: Eine aberwitzige Anzahl von Beweisen und Interpretationen dafür, dass -so eine der vielen Legenden- die Mondlandung ausgerechnet von Stanley Kubrick in den White Sands der Wüste Nevadas aufgenommen wurde. Ähnlich geht es bei der Frage, wer John F Kennedy getötet habe. Oder bei den weitaus schwerer zu interpretierenden Bildern aus moderner Kriegsführung, z.B. Drohnenvideos, angeblichen Beweisen für Besuche von Außerirdischen und abstrusen, militärisch-wissenschaftlichen Geheim-Experimenten.
Seit
Jahren kursiert ein schreckliches Video im Netz, in dem russische Forscher in den 1940er Jahren einem
Hund den Kopf abtrennten und diesen durch einen Vorläufer der
Herz-Lungen-Maschine am Leben erhielten. Als ich dieses Video durch
Zufall zum ersten Mal sah, hielt ich es für echt und war von der
Würdelosigkeit dieses Experiments erschüttert. Je mehr
ich aber darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher kam mir dieses
wahnwitzige Experiment vor. Je mehr ich nachforschte, umso mehr
Theorien um Echtheit und Falschheit dieser Aufnahmen fand ich. So
wurden sie für die einen zum Beleg für die Unmenschlichkeit der Forscher, gar zum
Beweis für die Grausamkeit des Kommunismus. Andere fanden Indizien dafür, dass es sich um einen offensichtlich
inszenierten Propagandafilm handelte, der angeblich die Überlegenheit der
russischen Forschung in Szene setzen sollte. Dann wieder handelte es sich um einen
amerikanischer Propagandafilm, der dem Ansehen der Sowjets schaden
sollte. Stets fanden Beobachter Belege für die Echtheit oder den
Fake.
Dabei
spielten 5 Formen des Verdachts gegenüber diesen Bildern eine Rolle:
1. Der Verdacht, die Bilder könnten echt sein. 2. Der Verdacht, sie
könnten lügen. 3. Der Verdacht der Machbarkeit; ein solches Experiment sei 1940
technisch möglich gewesen oder nicht. 4. Der Verdacht,
Wissenschaftler seien zu einer solchen Grausamkeit fähig. 5. Es
könne sich um Propaganda halten. Die ersten beiden Punkte beziehen
sich auf die Glaubwürdigkeit der Technologie der Bildproduktion.
Punkt drei und vier beziehen den Zweifel auf die Kredibilität
des Dargestellten. Der letzte Punkt versucht die Glaubwürdigkeit der
Bilder über eine vermeintliche Kompromittiertheit zu entkräften
oder zu relativieren. Ich konnte jedenfalls keinen wirklichen Beweis
für die Richtigkeit meiner Emotionen gegenüber dem russischen Film finden und
ging dazu über, glauben zu wollen, es handle sich um einen Fake.
Letztlich ist als der Verdacht mein Medium, an der Grausamkeit der
Welt nicht verzweifeln zu müssen und so mein Leben zu erleichtern.
Der
Verdacht, der am Wahrheitsgehalt von Bildern zweifelt, ist oft aber
einer Grundannahme der Überlegenheit in Bezug auf das technische
Vermögen von Bilderzeugern aufgesessen. Im Zeitalter von
Bildmanipulationen und Bildpolitik sind die
Bildproduktionsmaschinen alles andere als verlässliche Träger von
Information geworden. Die plumpen Auslöschungen Leo Trotzkis aus dem
offiziellen Bilderkanon der UdSSR sind in vielerlei Hinsicht
zeitgenössischen Manipulationen ähnlich, obgleich letztere technisch
avancierter sind. Die Fotoretuschen der russischen Propagandamaschine
zogen ihre Kraft aus der damaligen Lesart von Fotografie. Das ist für
unsere digitalen Bildwelten kaum anders. Oft bezieht sich also der
Zweifel am Wahrheitsgehalt der Bilder auf den Inhalt und weniger auf
die Produktionstechnik, deren darstellende Standards wir unbewusst
als authentisch angenommen haben. Obwohl digitale Fälschungen doch
erkennbar sind, ist es aufgrund der Abstraktion digitaler Bilder, das
gilt insbesondere für Streaming-Media, immer schwieriger geworden,
zwischen bearbeitetem und unbearbeitetem Bild zu unterscheiden.
Einige Bilder sind so abstrakt, dass sie ohne Interpretation gar
nicht auskommen können. Die Aufnahmen von Drohnen beispielsweise
liefern Bilder von hohem Abstraktionsgehalt, die ohne externes
Narrativ kaum noch in Beziehung zu setzen sind. Und gerade an den Punkten, an
denen wir es nicht mehr erkennen können und Bilder einen besonderen
Deutungsbedarf auslösen, sind wir geneigt, hinter den Bildern mehr
zu vermuten.
Der
Verdacht, also die Annahme, jemand habe übel gehandelt, hat seinen
sprachlichen Ursprung in der « Vordacht ». Gerne wird
diese Nähe zur Vorverurteilung oder gar zum Vorurteil vergessen. Im
Falle Edathy, in der Causa Wulff oder bei Uli Hoeneß schwingt die
Vordacht mit, Politik und Institutionen hätten Dreck am Stecken.
Dieser Argwohn kann in einer Demokratie hilfreich sein. Zieht er aber
die Gültigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien und Weisungen in
konstanten Zweifel, so kann eine Inflation der Skandale ebenso
symptomatisch für eine Krise der Demokratie sein wie das Fehlen
solcher. Aufgabe der Presse ist es, die Demokratie zu kontrollieren,
nicht ihre Legitimität in Abrede zu stellen. In den drei genannten
Fällen betrieben Teile der Presse eine Affizierung der öffentlichen
Meinung, der es an demokratischer Kultur mangelt.
Hinter
jeder mediatisierten Realität lauert der sub-mediale Raum. Dieser
liege, wie der Philosoph Boris Groys beschreibt, wie gesagt, hinter
der medialen Oberfläche und unsereins käme nicht umhin, hinter
jeder normativen Oberfläche einen Abgrund der Lüge zu vermuten. Je
banaler der Anschein, umso stärker der Verdacht. Der Populismus
einschlägiger Medien hat sich die detektivische Praxis von
Medienwissenschaftlern bis zu Verschwörungstheoretikern längst
angeeignet und modelliert damit die Einschlagskraft ihrer
Nachrichten. Stets spüren Kolporteure die Möglichkeit zum Skandal
auf. Volkszorn gegen Wellen der Sympathie. Was sozialen Unfrieden
auch schürt; für den Nachrichtenmarkt ist es immer gut.
Im
Fall Edathy ist bis heute vieles unklar. Der Mutmaßung, es könne
sich bei den Bildern, die Edathy im Internet bestellte, um
Kinderpornografie handeln, reichte dank „gutem“ Timing bereits
für die mediale Guillotine. Dass es sich bei den Bildern um
Darstellungen nackter Kinder im Grenzbereich zur Pornografie handeln
könnte, erfuhr man später. Die Justiz aber kann Grenzwertigkeit
nicht verurteilen. Wo es keinen
Verstoß gegen Gesetze gab, entbrannten erst Moraldebatten, dann der
Ruf nach schärferen Gesetzen. Verdacht ist ein stumpfes Beil.
Früher hat man versucht, durch Unterstellung von Homosexualität,
das Ansehen politischer Gegner zu beschmutzen. Die Affäre Kißling
war ein tragischer Fall. Damals hatte man versucht durch sexuelle
Denunziation, in Form der Behauptung der ranghohe Bundesgeneral sei
homosexuell, sich selbigem zu entledigen. Als Begründung für die
folgende Amtsenthebung galt wiederum ein Verdacht: nämlich, dass
Kißling durch seine sexuelle Orientierung in besonderem Masse
erpressbar sei und durch seinen Umgang ein Sicherheitsrisiko
darstelle. Ronald Schill versuchte später, Ole von Beust durch selbe
sexuelle Denunziation zu erpressen. Er scheiterte. Die öffentliche
Meinung hatte sich geändert. Der Satz: „Ich bin schwul und das ist
auch gut so!“ stammte von Berlins regierendem Bürgermeister Klaus
Wowereit und besiegelte die Epoche homosexueller Denunziation. Wer
sie heute hervorbrächte, würde gegen den neuerlichen moralischen
Standards der political correctness verstoßen. Heute lautet
der terminale Vorwurf: Pädophilie! Von ihm kann man sich nicht
reinwaschen. So wie Kißling trotz Rehabilitierung in militärischen
Kreisen für immer geächtet blieb, gilt heute, dass derjenige, dem
Pädophilie auch nur vorgeworfen wird, selbst bei Freispruch nicht
mehr unbedingt mit einer gesellschaftlichen Rehabilitierung rechnen
kann. Der Verdacht ist, wie bereits erwähnt, gleichzeitig schon das
Urteil. Im Zuge der britischen Operation Ore wurden tausende
anhand von Kreditkartendaten dem Verdacht der Pädophilie ausgesetzt.
Was die britische Polizei der Öffentlichkeit verschwieg, war ein
großangelegter Kreditkartenmißbrauch, dem tausende zum Opfer fielen
und so falsch beschuldigt wurden. Im Resultat bedeutete es über
100-fachen Kindesentzug für Väter und 33 Selbstmorde.
Beim
Verdacht schwingt also auch eine Färbung mit, die wohlwollend oder
eben nicht, die Möglichkeit einer Rehabilitierung ein- oder
ausräumt. Ob eine mediatisierte vermeintliche Tatsache wahr ist oder
nicht, kann dabei unter den Tisch fallen. Das ist bei der Schuldfrage
eine meist personalisierte Angelegenheit, welche sich der
öffentlichen Meinung unterwerfen muss. Zum Beispiel: Hoeneß war es
nicht, und wenn doch, wiege es nicht so schlimm, er habe ja auch so
viel für den Verein, ja für Deutschland getan. Und schon fragt man
sich, ob der Verurteilte die Haftbedingungen überstehen werde oder
ob er nicht daran zugrunde gehen könnte. Eine Empathie tritt zutage,
die normalen Verbrechern normalerweise nicht begegnet. Im Gegenteil,
werden die Normen des Rechtsstaats gerne mal aus den Angeln gehoben
bei lauthalsen Forderungen nach Zwangskastration für
Sexualstraftäter und Wiedereinführung der Todesstrafe. Ähnlich
exzessive Forderungen werden, je nach Feindbild auch gerne für
andere Gruppen als Maßnahmen angeführt. Man erinnere sich an Peter
Fleischmann's Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“, in denen
sogenannten „gammelnden“ Jugendlichen, wegen Verstosses gegen das
nazistisch-protestantische Arbeitsethos der Aufbaugeneration, den in
schmerzhafter Kontinuität zur NS-Ideologie so genannten
„Sozialschmarotzern“ Zwangswäsche, Arbeitslager und Todestrafe
anempfohlen wird. Ein Diskurs, der sich -nota bene- bis heute, in
geschwächter Form, in Bezug auf sogenannte „Integrations- und
Arbeitsunwillige“ hält.
Im
letzten Sommer schrieb ich einen Artikel über die Anklage von
Jonathan Meese wegen des Zeigens des Hitlergrusses auf einer
öffentlichen Veranstaltung. Später folgte eine Anklage wegen des
Zeigens des Hitlergrusses und des angedeuteten Oralsex mit einer
Alien-Puppe auf der Bühne des Mannheimer Theaters. Die Auftritte
Meese's haben immer den Charakter der Performance. Eine beflissene
Staatsanwaltschaft versuchte, sich durch eine solche Anklage gegen
einen prominenten einen Namen zu machen. Doch das Zeigen von
verfassungsfeindlichen Symbolen auf der Bühne ist nicht das Selbe
wie auf der Straße oder bei einer Demonstration. Nach dieser Logik
müssten einige berühmte Collagen des anti-faschistischen Künstlers
John Heartfield verboten sein.
Doch
der Gesetzgeber kennt den Unterschied und garantiert die Freiheit der
Kunst. Aus gutem Grund: Wir wollen ja eine Demokratie sein. Im
Gegensatz zu Ländern wie Afghanistan gibt es hier per Gesetz
a priori keine Bilderverbote. Bilderverbote gibt es bei uns -offiziell
jedenfalls- nur in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und andere
Grundrechte Dritter, Jugendgefährdung, Pornografie und insbesondere
Kinderpornografie. Jedoch schließt der Tatbestand der Pornografie
den Kunstcharakter nicht zwingend aus. So entschied im berühmten
Mutzenbacher-Prozess gar das Bundesverfassungsgericht in der Revision
einer Klage des Rowohltverlages gegen die Zensur der Autobiografie
der Dirne Josephine Mutzenbacher.
Im
Bezug auf die Bilder ist es klar: Die Freiheit der Darstellung hat
ihre Grenzen in der Verletzung von Grundrechten. Dabei ist es ganz
gleichgültig, ob und wie man etwas moralisch oder qualitativ
beurteilt. In diesem Grenzbereich bewegen sich einige Künstlerinnen
und Künstler. Man kann beispielsweise die Darstellung von Frauen bei
Helmuth Newton oder bei Mel Ramos und Allen Jones geteilter Meinung
sein. Einen Shitstorm löste unlängst eine Skulptur von Bjarne
Melgaard aus, ein angeblich sadomasochistisches und
frauenverachtendes sowie rassistisches Sitzmöbel. Über den
Zusammenhang von Frauenfeindlichkeit und Sadomaso müsste man
gesondert diskutieren. In der öffentlichen Meinung geht es bei so
einer Darstellung vornehmlich um Sexismus. Brisanz erhielt das Werk
des Norwegers Melgaard, als sich eine russische Oligarchenfrau und
Galeristin darauf setzte und für die Öffentlichkeit ablichten ließ.
Verstanden hatte die Kunstkennerin das Werk offenbar nicht Sonst
hätte sie sich als weiße Frau nicht für den Fototermin darauf
gesetzt. Melgaard wurde auch selbst mit dem Vorwurf des Rassismus und
der Frauenfeindlichkeit konfrontiert. Dabei handelte es sich bei dem
Werk um ein Zitat eines Werks von Allen Jones, dessen angenommenen
Sexismus Melgaard ins Rassistische steigerte. Aber ist er deshalb
auch selber ein Rassist? Nein, das ist er nicht. Die Meta-Ebene des
Werks verlangt gelesen zu werden. Gerade hierin besteht ja der
Kunstcharakter.
Balthus
hat sich stets gegen den Pädophilie-Verdacht gewehrt und gesagt, das
läge alles an Nabokov und der Konjunktur der Freud'schen
Psychoanalyse in bürgerlichen Kreisen ab den 1950er Jahren. In der
Tat kann man seinen Gemälden halbwüchsiger Mädchen den
Kunstcharakter nicht absprechen. Dennoch wohnt Ihnen das inne, was
sich in seinen im hohen Alter angefertigten Polaroids offenbaren
sollte: Ein pädophiler Blick.
Auch
Edathy verteidigt sich ähnlich und das ist strategisch klug. Er
behauptet, bei den von ihm bestellten Bildern handle es sich um
Kunst. Das ist geschickt, denn er stellt damit der öffentlichen
Meinung eine Falle. Sein Gegenverdacht: Hinter der entfesselten
Moral lauere die Doppelmoral. Da man die betreffenden Bilder nicht
gesehen hat, findet die Debatte allerdings anhand eines Phantoms
statt. Über die Grenzwertigkeit einiger Darstellungen kann man sich
durchaus auch mit dem Blick auf den bürgerlichen Kunstgeschmack
streiten. Die Gemälde eines Balthus, mit ihrer obsessiven
Darstellung sich räkelnder, halbwüchsiger Mädchen, eindeutiger
noch die jüngst ausgestellten, privaten Polaroids, offenbaren den
lüsternen Blick von Opa Pervers. Der Kunstgehalt ist diskutabel, die
juristische Situation unklar. Die öffentliche Meinung ist aber der
gnadenloseste aller Richter. So beschloss das Essener Folkwang Museum
im Februar die angekündigte Ausstellung der Balthus-Polaroids lieber
abzusagen.
Verselbständigt
sich der zum gesellschaftlichen Medium gewordene Verdacht hier, wird
er zum gelenkten Instrument dort. Das Boulevard ist bei der
öffentlichen Meinungsbildung stets an vorderster Front. Man erinnere
sich an die peinliche Geschichte 2004 im Kunstraum Kreuzberg, als
B.Z. und Bild-Zeitung anlässlich der Ausstellung « When love
turns to poison » zum Thema Pädophilie einen Skandal
herbeiführen wollten, wohl mit dem Ziel, die damalige
PDS-Bürgermeisterin zu Fall zu bringen. Die kritische
Auseinandersetzung mit dem Thema wurde ins Gegenteil interpretiert.
Doch der Skandal war ein Rohrkrepierer. « Wollita », hieß
ein Werk von Françoise
Cactus, auch bekannt als Sängerin der Band „Stereo Total“. Die
große, nackte Strickpuppe mit dem Sex-Appeal des Topflappens wurde
vermeintlich zum Indiz für Pädophilieverharmlosung. Dabei wurde sie
nach dem Vorbild einer Sexanzeige in der B.Z. geschaffen. Abgründe
der Manipulation taten sich auf, als der stadtbekannte Kirchenstörer
Roy im rein zufälligen Beisein der Presse Teile die Ausstellung
zerstörte. Der Zwergenaufstand des christlichen Fundamentalisten
wurde zum Bildersturm einer aufgebrachten Kirchengemeinde
umgedichtet.
Als
habe man nichts dazu gelernt, plante das Boulevard vor zwei Wochen
die aufgeheizte Stimmung um Edathy mit einem weiteren
Pädophilie-Verdacht zu befeuern. In einer Ausstellung in der Galerie
des Lichtenberger Rathauses waren auf Bildern der Malerin Claudia
Clemens nackte Kinder zu sehen. Die üblichen Presseorgane streuten
den Verdacht, im SPD-geführten Rathaus werde Kinderpornographie
gezeigt. Das triefte vor Sensationalismus. Aber leider wieder nur
Fehlanzeige. Als wolle man es betonen, zensierte man für den Abdruck
in der B.Z. den Genitalbereich in zwei Kinderdarstellungen. Es
handelte sich bei den Bildern aber nicht um Pornografie. Wer jedoch
in einer Darstellung eines nackten Kindes partout etwas
pornografisches entdecken möchte, könnte der nicht selbst eines
perversen Blicks verdächtigt werden? Ich selbst habe in meiner Zeit
an der Kunsthochschule beobachten können, wie Gemüter hoch kochten,
als ich ein Foto von einem Jungen zeigte, der in Unterhosen auf einem
Ehebett saß und dessen Augenpaar mit einem schwarzen Balken
anonymisiert wurde. Mit schlimmen Vorwürfen konfrontiert, konnte ich
nur grinsend antworten, dass es sich bei dem Jungen um mich selbst
handelte und verwies, nicht ohne Häme, auf den Titel des Bildes :
« Schönheit und Verbrechen liegen im Auge des Betrachters. »
Was
gezeigt und was verdeckt wird, obliegt immer gesellschaftlichen
Übereinkünften oder Tabus. In der Kunst, kann die rituelle
Rahmenbedingung der Kunstrezeption und ihres Kanons, dafür sorgen,
dass obszöne Inhalte durch die Vergeistigung der Kunst (oder aber
auch der Religion) eine gesellschaftlich akzeptable Form erhalten.
Damit solche Mechanismen zum Funktionieren gelangen, muss die diesem
zugrundeliegende Technê verheimlicht werden. (Zur Erklärung:
Technê, ein Begriff aus der griechischen Antike, in der es
unter diesem Begriff zu keiner Unterscheidung von Kunst und Technik
kam. Einem Verständnis dieses Begriffs können wir näher kommen
können, wenn wir den Begriff der „Fertigkeit“ den Begriffen der
Kunst und der Technik nebenstellen.) So beschreibt in der heutigen
Bedeutung Technê, Achtung!
Jetzt wird es kompliziert!- einerseits die Fertigkeit zur Abbildung
menschlicher Bedürfnisse und Phantasmen und andererseits die
Rückwirkung der hierzu gebrauchten Technik auf die Hervorrufung, die
Imaginationstechniken, gar die Potenzierung besagter Bedürfnisse
und Phantasmen. Moralische und sittliche Standards geben vor, in
welchem Rahmen dies geschehen kann. Mitunter liegt aber gerade in der
Offenlegung der Technê selbst
eine Obszönität. Wenn zum Beispiel Regisseure wie Pasolini oder
Fellini die technische Seite der inszenatorischen Praktiken des
Katholizismus mittels unterschwelliger Obszönität offenlegen.
Sozusagen wird das Aufzeigen der Obszönität selbst als obszön
gebranntmarkt, und zwar von jenen Kräften die obszöne Technê an
den Tag legen. Das kann die katholische Kirche mit ihrer durch und
durch sinnlichen Kunst sein, das kann die US-Regierung mit ihrer
Reaktion auf Whistleblower sein.
Die
Turaeg-Männer bedecken ihren Mund mit einem Schleier. Sie empfinden
das hervorzeigen des Mundes als obszön. Das Verdecken des
Sprachorgans bedeutet ein Verbergen der Körperöffnung durch die
Sprache und Information ausgetauscht und verbreitet wird. Wir alle
kennen die sprichwörtliche Geste der vorgehaltenen Hand, wenn
Indiskretionen, Gerüchte, Geheimnisse und ungesicherte Informationen
verbreitet werden. Das Aufzeigen der Kulturtechnik des Lügens ist
selbst eine Kulturtechnik. In diesem dialektischen Verhältnis steht,
zumindest in unserem Kulturkreis, ein Kreislauf aus Verdacht, Kritik,
Denunziation, Abwehr und Dementi. Ebenso verhält es sich für eine
mediale Welt, in der verborgene Wahrheiten hinter der Technik
aufgedeckt werden. Es gibt eine Szene in Twin Peaks – Fire walk
with me, also der Kinoversion der gleichnamigen Serie, übrigens für
mich ein hiervon getrennt zu beachtendes Filmkunstwerk David Lynch's,
in dem die Protagonistin Laura Palmer in ihrem Schlafzimmer liegt und
eine an der Wand hängende Fotografie betrachtet, in der ihr Zimmer
mit einer zum Spalt geöffneten Tür zu sehen ist.
Je
länger sie das Bild betrachtet, umso mehr hat sie das Gefühl, in
das Bild eindringen zu können, sich in ihm zu bewegen, bzw., dass
das Bild ein Eigenleben besitzt. Dieses Vermögen zur Immersion,
offenbart sich, als sie den Raum verlässt und spürt, dass sich auch
auf der Fotografie die Tür weiter öffnet und sie sich nach kurzem
Zögern entscheidet, ihr Zimmer zu verlassen und den unheilvollen
Raum der unheimlichen Fotografie zu betreten. Die Phantasmagorie hat
ihre Technik gefunden. Laura Palmer betritt den submedialen Raum. Der
Verdacht tauscht die spekulative Ebene gegen eine nicht weniger
spekulative, aber als wahr angenommene mediale Realität ein. In
diesem Zusammenhang sei an die Verhaftung des Berliner Soziologen und
Universitätsprofessors Andrej Holm erinnert. Am 31. Juli 2007 wurde
er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung
verhaftet, weil sich in einem Bekennerschreiben der sogenannten
„Militanten Gruppe“ die Vokabeln „Gentrifizierung“ und
„Prekarisierung“ fanden, die Holm in seinen Veröffentlichungen
auch benutzte, wie das BKA in glorioser Internetrecherche herausfand.
Die Anklage musste später fallen gelassen werden, die Militante
Gruppe stellte sich als kriminelle Vereinigung heraus und nicht als
terroristische. Die Verbindungen zur Gruppe konnten dann doch nicht
nachgewiesen werden, da das Fehlen von Kontaktdaten eben nicht
konspirativer Natur war, so der Verdacht der Staatsanwaltschaft,
sondern wohl eher nicht existent. Ein falscher Verdacht der
offenlegt: die offensichtlich gewordene Totalüberwachung der Bürger
hat nicht dazu geführt, dass diese gesteigerte
Überwachungskompetenzu einer grösseren Effizienz bei der Erfassung
von Straftaten geführt habe. Spiegelt auch hier die Technê der
Überwachung die Fantasmagorien der Staatsanwälte und ermittelnden
Behörden? Eine Antwort erlaube ich mir, juristische Komplikationen
vermutend, nicht und verbleibe, mit herzlichen Grüßen aus dem
Celler Loch!
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