Mittwoch, 23. April 2014

Kalter Krieg im submedialen Raum

Vortrag in der ACC Galerie, Weimar, 22.4.2014


KALTER KRIEG IM SUBMEDIALEN RAUM


"Hotel Kilo" hieß im kalten Krieg ein Störsender des BND, der auf der Frequenz von Radio Moskau sendete. Störsender werden oft als Teil des Zensur- und Propaganda-Apparats totalitärer Staaten genannt. Doch auch das Fernsehen der DDR und der Rundfunk der DDR waren in der BRD -selbst im Zonenrandgebiet- nur schwer zu empfangen und durch Interferenzen gestört. Das fiel mir als radiofixierter Junge in den 1980ern bei Besuchen bei Oma im Zonenrandgebiet bei Lüchow-Dannenberg auf. Ich habe keine Beweise dafür, aber ich bin mir sicher, dass in unmittelbarer Nähe der DDR-Grenze das Fernsehen/ Radio der DDR hätte besser zu empfangen sein müssen. Auf der Stimme der DDR lag ein weisses Rauschen, auf ein Kessel Buntes rieselte leise der Schnee.



In dieser Zeit hörte ich natürlich gerne das Radio-Programm der BFBS, die einzige Quelle für alternative Musik der Post-Punk Ära. Ein Stück, das wie kein Zweites in diese Zeit passt, ist Computerwelt von Kraftwerk, das damals auch ab und an im Radio lief. Es beschrieb die Rätsel und Tabus hinter nicht identifizierbaren Daten. Es war die Zeit des nuklearen Patts, der Volkszählung, und der Beginn des digitalen Datenverkehrs. Im Radio tobte der Ätherkrieg: Oft gefiel es mir damals, einfach die Sender der Kurzwelle zu durchforsten. Das war eine tolle Beschäftigung an grauen Tagen in der niedersächsischen Provinz. Wenn die Wolken niedrig hingen, war der Empfang oft gut und man konnte auf Safari gehen: Sender aus Russland, Finland, Polen und in Sprachen, die ich nicht einordnen konnte. Eine bei mir besonders beliebte Station war der Deutsche Seewetterdienst. Ich wartete immer darauf, dass irgendwas mit Windstärke 5 oder 9 kam. Dann sagte die Frau immer: "Fünnef" oder "Neuen", weil das wohl besser zu verstehen sei. Auf Kurzwelle so üblich. Irgendwann landete ich bei einem Sender, da sagte eine Stimme ebenfalls "Fünnef" und noch viele andere Zahlen. Manchmal irgendwas in Richtung "Tango, Foxtrott, Delta, Lima, Charly...", dann Zahlenreihen. Dazwischen monotone Tonfolgen, Piep- oder Brummtöne. Ansonsten keine Informationen. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es sich dabei um sogenannte "Zahlensender" handelte. Diese waren im kalten Krieg Sender des Militärs, von Agentennetzwerken oder diplomatischen Diensten. Sie übermitteln geheime Informationen, Lageberichte und Einsatzbefehle. Auch heute noch gibt es solche Sender.





In Russland gab es auch einige solcher Zahlensender, der sagenumwobenste ist UVB-76, genannt "The Buzzer". Sein Zweck wurde öffentlich nie geklärt. Wir können darüber nur Vermutungen anstellen. UVB-76 sendete, wie viele der mysteriösesten Stationen nur Brumm- oder Pieptöne, gelegentlich unterbrochen von sich wiederholenden Sprachmeldungen; Zahlen und Buchstabencodes, die sich über Jahrzehnte nicht veränderten. Um UVB-76 rankten sich allerhand obskure Theorien. Die Gruseligste ist wohl die der "toten Hand". Diese besagt, dass der Sender die Funktion eines Totmannschalters erfüllt. Dieses kennt man beispielsweise aus der Lokomotive. Hier muss der Fahrer alle paar Sekunden auf einen Schalter drücken, sonst wird der Zug automatisch gebremst. Für den Zahlensender besagt die Theorie, dass ein Ende des Funksignals einen atomaren Zweitschlag auslösen sollte. Würde also die UdSSR von Atomraketen angegriffen und die militärische Führung abgeschnitten oder getötet, löste sich automatisch der Zweitschlag.

Ob das stimmt oder nicht, kann niemand mit Gewissheit sagen. Aber der Verdacht beflügelt die Phantasien und vereinigt, wie so oft Fakt und Fiktion im "sub-medialen Raum". Mit diesem Terminus  beschreibt der russische Philosoph Boris Groys, dass sich hinter dem sichtbaren Zeichenraum, ein unsichtbarer Raum dunkler Geheimnisse verberge. In seinen Worten also: "dass sich hinter allem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbirgt, das als Medium dieses Sichtbaren fungiert". 


Das Symptomatische für das Verhältnis der Menschen Anfang der 1980er Jahre zur Medien-, Kommunikations-, und Informationswelt lag in jenem, nach Edward Snowden aktualisierten, Verdacht des Unheils der digitalen, bzw. codierten Nachrichtenwelt gegenüber der analogen Welt. Was auch Kraftwerk in ihren Song „Nummern“ und „Computerwelt“ einarbeiten, war die Gewissheit einer gegenwärtigen und greifbaren medialen Realität, einer Kommunikation, deren durch die Zeichen selbst versiegelter Inhalt gleichsam Enigma und Tabu ist. Dass also (in den 1980ern wohlgemerkt in einer völlig anderen geopolitischen Situation) die Großmächte als abgeschottete Entitäten an den Menschen vorbei kommunizierten in einer codierten Geheimsprache, auf welche der gewöhnliche Mensch mit seinen Öffentlichkeitsapparaten keinen Einfluss nehmen konnte, betonierte das Gefühl des Ausgeliefert-Seins: Maschinen lenkten das Schicksal der Welt. Apparatschiks drückten in blindem Gehorsam nur noch die Knöpfe. Die Befehlsgewalt hatte Dr. Strangelove oder gar eine außer Kontrolle geratene Maschine, die von Menschenhand nicht mehr aufgehalten werden kann.
Dieses Verhältnis führte zu einer Skepsis gegenüber Maschinen und maschinen-basierter Datenerhebung, die in mancherlei kulturellem Erzeugnis die Feindschaft von Menschengeschlecht und Maschinen imaginierte und Filme, wie den Terminator von Ridley Scott hervorbrachte. Auch der Song „Computerstaat“ der Hamburger Punkband Abwärts zeugte von dieser Entfremdung. In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit führte die Angst vor Maschinen- und Geheimdienstkontrolle zum Volkszählungsboykott und den dazugehörenden Demonstrationen.



Blickt man im Zeitalter von sozialer Netzwerke auf das zurück, wogegen sich die Bürgerbewegung in jener Zeit wehrte, kommt einem die Leichtfertigkeit, mit der man jahrelang soziale Netzwerke und ähnliches mit intimsten Informationen und sensibelsten Metadaten fütterte, geradezu wahnsinnig vor. Erst die NSA-Affäre brachte bei Öffentlichwerdung einen erneuten Einbruch von Skepsis in das Verhältnis von Mensch und Information. Doch wer heute von Vertrauensbruch spricht, sollte sich vielleicht zunächst fragen, wie es überhaupt erst zu einem Vertrauen kommen konnte.

Beides, das Vertrauen wie das Misstrauen bauen auf dem Verdacht auf: Einerseits, dass das Netz sicher sei, dass die Technologie die Privatheit der Menschen schützen könne und dass Staat und die Firmen, deren Kunde man ist, diese Privatsphäre respektierten. Andererseits das fatalistische Gegenbild: Einer omnipräsenten Überwachung sei mehr zu entkommen und Spione lauerte überall. Doch das neue Gefühl des Ausgeliefertseins unterscheidet sich von der Situation in den 1980er Jahren aber in einem besonders: Die damalige Disziplinargesellschaft und das lineare Kräfteverhältnis der Welt machten den den „Big Brother“ benennbar. In der heutigen Kontrollgesellschaft ist eine solche Adressierbarkeit von Kritik nur noch schwer vollziehbar. Ob und welche Staaten, welche Firmen, Verbrecher-Syndikate, Marktforschungsinstitute und Web-Dienste für Datengebrauch und -mißbrauch verantwortlich seien -wer könnte es in einer Welt potenziell überall lauernder Feindlichkeit noch mit Sicherheit sagen?



"Die Verbotenen Aufnahmen" von Jean-Teddy Philippe war eine Kurzfilmreihe, in der vermeintliche Amateuraufnahmen (angebl. von 1940-1980) von Übernatürlichem, Unerklärlichem und Mysteriösem berichteten. 

Schon der Titel diese Films deutet an, die Wahrheit der Bilder könnte im submedialen Raum zu finden sein. Dieser Raum erscheint so unergründlich, die darin verborgenen Wahrheiten so brisant, dass die Filmaufnahmen "verboten" sein. Dies suggeriert eine mediale Verschwörung, welche die Existenz von Außerirdischen, bizarre militärische Experimente und allerhand Paranormales zu verschleiern sucht.

In Wahrheit handelte es sich um ein fiktives Filmprojekt, dass mit dem Verdacht des Publikums und einem gebrochenen Verhältnis zur medialen Realität spielt. Das funktioniert bis heute ebenso gut wie die Mondlandungsverschwörung. Wer einmal bei youtube nach Beweisvideos dafür sucht, dass die Mondlandung nie stattgefunden hat, der kann hier fündig werden: Eine aberwitzige Anzahl von Beweisen und Interpretationen dafür, dass -so eine der vielen Legenden- die Mondlandung ausgerechnet von Stanley Kubrick in den White Sands der Wüste Nevadas aufgenommen wurde. Ähnlich geht es bei der Frage, wer John F Kennedy getötet habe. Oder bei den weitaus schwerer zu interpretierenden Bildern aus moderner Kriegsführung, z.B. Drohnenvideos, angeblichen Beweisen für Besuche von Außerirdischen und abstrusen, militärisch-wissenschaftlichen Geheim-Experimenten.



Seit Jahren kursiert ein schreckliches Video im Netz, in dem russische Forscher in den 1940er Jahren einem Hund den Kopf abtrennten und diesen durch einen Vorläufer der Herz-Lungen-Maschine am Leben erhielten. Als ich dieses Video durch Zufall zum ersten Mal sah, hielt ich es für echt und war von der Würdelosigkeit dieses Experiments erschüttert. Je mehr ich aber darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher kam mir dieses wahnwitzige Experiment vor. Je mehr ich nachforschte, umso mehr Theorien um Echtheit und Falschheit dieser Aufnahmen fand ich. So wurden sie für die einen zum Beleg für die Unmenschlichkeit der Forscher, gar zum Beweis für die Grausamkeit des Kommunismus. Andere fanden Indizien dafür, dass es sich um einen offensichtlich inszenierten Propagandafilm handelte, der angeblich die Überlegenheit der russischen Forschung in Szene setzen sollte. Dann wieder handelte es sich um einen amerikanischer Propagandafilm, der dem Ansehen der Sowjets schaden sollte. Stets fanden Beobachter Belege für die Echtheit oder den Fake.

Dabei spielten 5 Formen des Verdachts gegenüber diesen Bildern eine Rolle: 1. Der Verdacht, die Bilder könnten echt sein. 2. Der Verdacht, sie könnten lügen. 3. Der Verdacht der Machbarkeit; ein solches Experiment sei 1940 technisch möglich gewesen oder nicht. 4. Der Verdacht, Wissenschaftler seien zu einer solchen Grausamkeit fähig. 5. Es könne sich um Propaganda halten. Die ersten beiden Punkte beziehen sich auf die Glaubwürdigkeit der Technologie der Bildproduktion. Punkt drei und vier beziehen den Zweifel auf die Kredibilität des Dargestellten. Der letzte Punkt versucht die Glaubwürdigkeit der Bilder über eine vermeintliche Kompromittiertheit zu entkräften oder zu relativieren. Ich konnte jedenfalls keinen wirklichen Beweis für die Richtigkeit meiner Emotionen gegenüber dem russischen Film finden und ging dazu über, glauben zu wollen, es handle sich um einen Fake. Letztlich ist als der Verdacht mein Medium, an der Grausamkeit der Welt nicht verzweifeln zu müssen und so mein Leben zu erleichtern.


Der Verdacht, der am Wahrheitsgehalt von Bildern zweifelt, ist oft aber einer Grundannahme der Überlegenheit in Bezug auf das technische Vermögen von Bilderzeugern aufgesessen. Im Zeitalter von Bildmanipulationen und Bildpolitik sind die Bildproduktionsmaschinen alles andere als verlässliche Träger von Information geworden. Die plumpen Auslöschungen Leo Trotzkis aus dem offiziellen Bilderkanon der UdSSR sind in vielerlei Hinsicht zeitgenössischen Manipulationen ähnlich, obgleich letztere technisch avancierter sind. Die Fotoretuschen der russischen Propagandamaschine zogen ihre Kraft aus der damaligen Lesart von Fotografie. Das ist für unsere digitalen Bildwelten kaum anders. Oft bezieht sich also der Zweifel am Wahrheitsgehalt der Bilder auf den Inhalt und weniger auf die Produktionstechnik, deren darstellende Standards wir unbewusst als authentisch angenommen haben. Obwohl digitale Fälschungen doch erkennbar sind, ist es aufgrund der Abstraktion digitaler Bilder, das gilt insbesondere für Streaming-Media, immer schwieriger geworden, zwischen bearbeitetem und unbearbeitetem Bild zu unterscheiden. Einige Bilder sind so abstrakt, dass sie ohne Interpretation gar nicht auskommen können. Die Aufnahmen von Drohnen beispielsweise liefern Bilder von hohem Abstraktionsgehalt, die ohne externes Narrativ kaum noch in Beziehung zu setzen  sind. Und gerade an den Punkten, an denen wir es nicht mehr erkennen können und Bilder einen besonderen Deutungsbedarf auslösen, sind wir geneigt, hinter den Bildern mehr zu vermuten.

Der Verdacht, also die Annahme, jemand habe übel gehandelt, hat seinen sprachlichen Ursprung in der « Vordacht ». Gerne wird diese Nähe zur Vorverurteilung oder gar zum Vorurteil vergessen. Im Falle Edathy, in der Causa Wulff oder bei Uli Hoeneß schwingt die Vordacht mit, Politik und Institutionen hätten Dreck am Stecken. Dieser Argwohn kann in einer Demokratie hilfreich sein. Zieht er aber die Gültigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien und Weisungen in konstanten Zweifel, so kann eine Inflation der Skandale ebenso symptomatisch für eine Krise der Demokratie sein wie das Fehlen solcher. Aufgabe der Presse ist es, die Demokratie zu kontrollieren, nicht ihre Legitimität in Abrede zu stellen. In den drei genannten Fällen betrieben Teile der Presse eine Affizierung der öffentlichen Meinung, der es an demokratischer Kultur mangelt.

Hinter jeder mediatisierten Realität lauert der sub-mediale Raum. Dieser liege, wie der Philosoph Boris Groys beschreibt, wie gesagt, hinter der medialen Oberfläche und unsereins käme nicht umhin, hinter jeder normativen Oberfläche einen Abgrund der Lüge zu vermuten. Je banaler der Anschein, umso stärker der Verdacht. Der Populismus einschlägiger Medien hat sich die detektivische Praxis von Medienwissenschaftlern bis zu Verschwörungstheoretikern längst angeeignet und modelliert damit die Einschlagskraft ihrer Nachrichten. Stets spüren Kolporteure die Möglichkeit zum Skandal auf. Volkszorn gegen Wellen der Sympathie. Was sozialen Unfrieden auch schürt; für den Nachrichtenmarkt ist es immer gut. 

Im Fall Edathy ist bis heute vieles unklar. Der Mutmaßung, es könne sich bei den Bildern, die Edathy im Internet bestellte, um Kinderpornografie handeln, reichte dank „gutem“ Timing bereits für die mediale Guillotine. Dass es sich bei den Bildern um Darstellungen nackter Kinder im Grenzbereich zur Pornografie handeln könnte, erfuhr man später. Die Justiz aber kann Grenzwertigkeit nicht verurteilen. Wo es keinen Verstoß gegen Gesetze gab, entbrannten erst Moraldebatten, dann der Ruf nach schärferen Gesetzen. Verdacht ist ein stumpfes Beil. Früher hat man versucht, durch Unterstellung von Homosexualität, das Ansehen politischer Gegner zu beschmutzen. Die Affäre Kißling war ein tragischer Fall. Damals hatte man versucht durch sexuelle Denunziation, in Form der Behauptung der ranghohe Bundesgeneral sei homosexuell, sich selbigem zu entledigen. Als Begründung für die folgende Amtsenthebung galt wiederum ein Verdacht: nämlich, dass Kißling durch seine sexuelle Orientierung in besonderem Masse erpressbar sei und durch seinen Umgang ein Sicherheitsrisiko darstelle. Ronald Schill versuchte später, Ole von Beust durch selbe sexuelle Denunziation zu erpressen. Er scheiterte. Die öffentliche Meinung hatte sich geändert. Der Satz: „Ich bin schwul und das ist auch gut so!“ stammte von Berlins regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit und besiegelte die Epoche homosexueller Denunziation. Wer sie heute hervorbrächte, würde gegen den neuerlichen moralischen Standards der political correctness verstoßen. Heute lautet der terminale Vorwurf: Pädophilie! Von ihm kann man sich nicht reinwaschen. So wie Kißling trotz Rehabilitierung in militärischen Kreisen für immer geächtet blieb, gilt heute, dass derjenige, dem Pädophilie auch nur vorgeworfen wird, selbst bei Freispruch nicht mehr unbedingt mit einer gesellschaftlichen Rehabilitierung rechnen kann. Der Verdacht ist, wie bereits erwähnt, gleichzeitig schon das Urteil. Im Zuge der britischen Operation Ore wurden tausende anhand von Kreditkartendaten dem Verdacht der Pädophilie ausgesetzt. Was die britische Polizei der Öffentlichkeit verschwieg, war ein großangelegter Kreditkartenmißbrauch, dem tausende zum Opfer fielen und so falsch beschuldigt wurden. Im Resultat bedeutete es über 100-fachen Kindesentzug für Väter und 33 Selbstmorde.


Beim Verdacht schwingt also auch eine Färbung mit, die wohlwollend oder eben nicht, die Möglichkeit einer Rehabilitierung ein- oder ausräumt. Ob eine mediatisierte vermeintliche Tatsache wahr ist oder nicht, kann dabei unter den Tisch fallen. Das ist bei der Schuldfrage eine meist personalisierte Angelegenheit, welche sich der öffentlichen Meinung unterwerfen muss. Zum Beispiel: Hoeneß war es nicht, und wenn doch, wiege es nicht so schlimm, er habe ja auch so viel für den Verein, ja für Deutschland getan. Und schon fragt man sich, ob der Verurteilte die Haftbedingungen überstehen werde oder ob er nicht daran zugrunde gehen könnte. Eine Empathie tritt zutage, die normalen Verbrechern normalerweise nicht begegnet. Im Gegenteil, werden die Normen des Rechtsstaats gerne mal aus den Angeln gehoben bei lauthalsen Forderungen nach Zwangskastration für Sexualstraftäter und Wiedereinführung der Todesstrafe. Ähnlich exzessive Forderungen werden, je nach Feindbild auch gerne für andere Gruppen als Maßnahmen angeführt. Man erinnere sich an Peter Fleischmann's Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“, in denen sogenannten „gammelnden“ Jugendlichen, wegen Verstosses gegen das nazistisch-protestantische Arbeitsethos der Aufbaugeneration, den in schmerzhafter Kontinuität zur NS-Ideologie so genannten „Sozialschmarotzern“ Zwangswäsche, Arbeitslager und Todestrafe anempfohlen wird. Ein Diskurs, der sich -nota bene- bis heute, in geschwächter Form, in Bezug auf sogenannte „Integrations- und Arbeitsunwillige“ hält.



Im letzten Sommer schrieb ich einen Artikel über die Anklage von Jonathan Meese wegen des Zeigens des Hitlergrusses auf einer öffentlichen Veranstaltung. Später folgte eine Anklage wegen des Zeigens des Hitlergrusses und des angedeuteten Oralsex mit einer Alien-Puppe auf der Bühne des Mannheimer Theaters. Die Auftritte Meese's haben immer den Charakter der Performance. Eine beflissene Staatsanwaltschaft versuchte, sich durch eine solche Anklage gegen einen prominenten einen Namen zu machen. Doch das Zeigen von verfassungsfeindlichen Symbolen auf der Bühne ist nicht das Selbe wie auf der Straße oder bei einer Demonstration. Nach dieser Logik müssten einige berühmte Collagen des anti-faschistischen Künstlers John Heartfield verboten sein.

Doch der Gesetzgeber kennt den Unterschied und garantiert die Freiheit der Kunst. Aus gutem Grund: Wir wollen ja eine Demokratie sein. Im Gegensatz zu Ländern wie Afghanistan gibt es hier per Gesetz a priori keine Bilderverbote. Bilderverbote gibt es bei uns -offiziell jedenfalls- nur in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und andere Grundrechte Dritter, Jugendgefährdung, Pornografie und insbesondere Kinderpornografie. Jedoch schließt der Tatbestand der Pornografie den Kunstcharakter nicht zwingend aus. So entschied im berühmten Mutzenbacher-Prozess gar das Bundesverfassungsgericht in der Revision einer Klage des Rowohltverlages gegen die Zensur der Autobiografie der Dirne Josephine Mutzenbacher.



Im Bezug auf die Bilder ist es klar: Die Freiheit der Darstellung hat ihre Grenzen in der Verletzung von Grundrechten. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob und wie man etwas moralisch oder qualitativ beurteilt. In diesem Grenzbereich bewegen sich einige Künstlerinnen und Künstler. Man kann beispielsweise die Darstellung von Frauen bei Helmuth Newton oder bei Mel Ramos und Allen Jones geteilter Meinung sein. Einen Shitstorm löste unlängst eine Skulptur von Bjarne Melgaard aus, ein angeblich sadomasochistisches und frauenverachtendes sowie rassistisches Sitzmöbel. Über den Zusammenhang von Frauenfeindlichkeit und Sadomaso müsste man gesondert diskutieren. In der öffentlichen Meinung geht es bei so einer Darstellung vornehmlich um Sexismus. Brisanz erhielt das Werk des Norwegers Melgaard, als sich eine russische Oligarchenfrau und Galeristin darauf setzte und für die Öffentlichkeit ablichten ließ. Verstanden hatte die Kunstkennerin das Werk offenbar nicht Sonst hätte sie sich als weiße Frau nicht für den Fototermin darauf gesetzt. Melgaard wurde auch selbst mit dem Vorwurf des Rassismus und der Frauenfeindlichkeit konfrontiert. Dabei handelte es sich bei dem Werk um ein Zitat eines Werks von Allen Jones, dessen angenommenen Sexismus Melgaard ins Rassistische steigerte. Aber ist er deshalb auch selber ein Rassist? Nein, das ist er nicht. Die Meta-Ebene des Werks verlangt gelesen zu werden. Gerade hierin besteht ja der Kunstcharakter.



Balthus hat sich stets gegen den Pädophilie-Verdacht gewehrt und gesagt, das läge alles an Nabokov und der Konjunktur der Freud'schen Psychoanalyse in bürgerlichen Kreisen ab den 1950er Jahren. In der Tat kann man seinen Gemälden halbwüchsiger Mädchen den Kunstcharakter nicht absprechen. Dennoch wohnt Ihnen das inne, was sich in seinen im hohen Alter angefertigten Polaroids offenbaren sollte: Ein pädophiler Blick.

Auch Edathy verteidigt sich ähnlich und das ist strategisch klug. Er behauptet, bei den von ihm bestellten Bildern handle es sich um Kunst. Das ist geschickt, denn er stellt damit der öffentlichen Meinung eine Falle. Sein Gegenverdacht: Hinter der entfesselten Moral lauere die Doppelmoral. Da man die betreffenden Bilder nicht gesehen hat, findet die Debatte allerdings anhand eines Phantoms statt. Über die Grenzwertigkeit einiger Darstellungen kann man sich durchaus auch mit dem Blick auf den bürgerlichen Kunstgeschmack streiten. Die Gemälde eines Balthus, mit ihrer obsessiven Darstellung sich räkelnder, halbwüchsiger Mädchen, eindeutiger noch die jüngst ausgestellten, privaten Polaroids, offenbaren den lüsternen Blick von Opa Pervers. Der Kunstgehalt ist diskutabel, die juristische Situation unklar. Die öffentliche Meinung ist aber der gnadenloseste aller Richter. So beschloss das Essener Folkwang Museum im Februar die angekündigte Ausstellung der Balthus-Polaroids lieber abzusagen.

Verselbständigt sich der zum gesellschaftlichen Medium gewordene Verdacht hier, wird er zum gelenkten Instrument dort. Das Boulevard ist bei der öffentlichen Meinungsbildung stets an vorderster Front. Man erinnere sich an die peinliche Geschichte 2004 im Kunstraum Kreuzberg, als B.Z. und Bild-Zeitung anlässlich der Ausstellung « When love turns to poison » zum Thema Pädophilie einen Skandal herbeiführen wollten, wohl mit dem Ziel, die damalige PDS-Bürgermeisterin zu Fall zu bringen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema wurde ins Gegenteil interpretiert. Doch der Skandal war ein Rohrkrepierer. « Wollita », hieß ein Werk von Françoise Cactus, auch bekannt als Sängerin der Band „Stereo Total“. Die große, nackte Strickpuppe mit dem Sex-Appeal des Topflappens wurde vermeintlich zum Indiz für Pädophilieverharmlosung. Dabei wurde sie nach dem Vorbild einer Sexanzeige in der B.Z. geschaffen. Abgründe der Manipulation taten sich auf, als der stadtbekannte Kirchenstörer Roy im rein zufälligen Beisein der Presse Teile die Ausstellung zerstörte. Der Zwergenaufstand des christlichen Fundamentalisten wurde zum Bildersturm einer aufgebrachten Kirchengemeinde umgedichtet.



Als habe man nichts dazu gelernt, plante das Boulevard vor zwei Wochen die aufgeheizte Stimmung um Edathy mit einem weiteren Pädophilie-Verdacht zu befeuern. In einer Ausstellung in der Galerie des Lichtenberger Rathauses waren auf Bildern der Malerin Claudia Clemens nackte Kinder zu sehen. Die üblichen Presseorgane streuten den Verdacht, im SPD-geführten Rathaus werde Kinderpornographie gezeigt. Das triefte vor Sensationalismus. Aber leider wieder nur Fehlanzeige. Als wolle man es betonen, zensierte man für den Abdruck in der B.Z. den Genitalbereich in zwei Kinderdarstellungen. Es handelte sich bei den Bildern aber nicht um Pornografie. Wer jedoch in einer Darstellung eines nackten Kindes partout etwas pornografisches entdecken möchte, könnte der nicht selbst eines perversen Blicks verdächtigt werden? Ich selbst habe in meiner Zeit an der Kunsthochschule beobachten können, wie Gemüter hoch kochten, als ich ein Foto von einem Jungen zeigte, der in Unterhosen auf einem Ehebett saß und dessen Augenpaar mit einem schwarzen Balken anonymisiert wurde. Mit schlimmen Vorwürfen konfrontiert, konnte ich nur grinsend antworten, dass es sich bei dem Jungen um mich selbst handelte und verwies, nicht ohne Häme, auf den Titel des Bildes : « Schönheit und Verbrechen liegen im Auge des Betrachters. »



Was gezeigt und was verdeckt wird, obliegt immer gesellschaftlichen Übereinkünften oder Tabus. In der Kunst, kann die rituelle Rahmenbedingung der Kunstrezeption und ihres Kanons, dafür sorgen, dass obszöne Inhalte durch die Vergeistigung der Kunst (oder aber auch der Religion) eine gesellschaftlich akzeptable Form erhalten. Damit solche Mechanismen zum Funktionieren gelangen, muss die diesem zugrundeliegende Technê verheimlicht werden. (Zur Erklärung: Technê, ein Begriff aus der griechischen Antike, in der es unter diesem Begriff zu keiner Unterscheidung von Kunst und Technik kam. Einem Verständnis dieses Begriffs können wir näher kommen können, wenn wir den Begriff der „Fertigkeit“ den Begriffen der Kunst und der Technik nebenstellen.) So beschreibt in der heutigen Bedeutung Technê, Achtung! Jetzt wird es kompliziert!- einerseits die Fertigkeit zur Abbildung menschlicher Bedürfnisse und Phantasmen und andererseits die Rückwirkung der hierzu gebrauchten Technik auf die Hervorrufung, die Imaginationstechniken, gar die Potenzierung besagter Bedürfnisse und Phantasmen. Moralische und sittliche Standards geben vor, in welchem Rahmen dies geschehen kann. Mitunter liegt aber gerade in der Offenlegung der Technê selbst eine Obszönität. Wenn zum Beispiel Regisseure wie Pasolini oder Fellini die technische Seite der inszenatorischen Praktiken des Katholizismus mittels unterschwelliger Obszönität offenlegen. Sozusagen wird das Aufzeigen der Obszönität selbst als obszön gebranntmarkt, und zwar von jenen Kräften die obszöne Technê an den Tag legen. Das kann die katholische Kirche mit ihrer durch und durch sinnlichen Kunst sein, das kann die US-Regierung mit ihrer Reaktion auf Whistleblower sein.

Die Turaeg-Männer bedecken ihren Mund mit einem Schleier. Sie empfinden das hervorzeigen des Mundes als obszön. Das Verdecken des Sprachorgans bedeutet ein Verbergen der Körperöffnung durch die Sprache und Information ausgetauscht und verbreitet wird. Wir alle kennen die sprichwörtliche Geste der vorgehaltenen Hand, wenn Indiskretionen, Gerüchte, Geheimnisse und ungesicherte Informationen verbreitet werden. Das Aufzeigen der Kulturtechnik des Lügens ist selbst eine Kulturtechnik. In diesem dialektischen Verhältnis steht, zumindest in unserem Kulturkreis, ein Kreislauf aus Verdacht, Kritik, Denunziation, Abwehr und Dementi. Ebenso verhält es sich für eine mediale Welt, in der verborgene Wahrheiten hinter der Technik aufgedeckt werden. Es gibt eine Szene in Twin Peaks – Fire walk with me, also der Kinoversion der gleichnamigen Serie, übrigens für mich ein hiervon getrennt zu beachtendes Filmkunstwerk David Lynch's, in dem die Protagonistin Laura Palmer in ihrem Schlafzimmer liegt und eine an der Wand hängende Fotografie betrachtet, in der ihr Zimmer mit einer zum Spalt geöffneten Tür zu sehen ist.


Je länger sie das Bild betrachtet, umso mehr hat sie das Gefühl, in das Bild eindringen zu können, sich in ihm zu bewegen, bzw., dass das Bild ein Eigenleben besitzt. Dieses Vermögen zur Immersion, offenbart sich, als sie den Raum verlässt und spürt, dass sich auch auf der Fotografie die Tür weiter öffnet und sie sich nach kurzem Zögern entscheidet, ihr Zimmer zu verlassen und den unheilvollen Raum der unheimlichen Fotografie zu betreten. Die Phantasmagorie hat ihre Technik gefunden. Laura Palmer betritt den submedialen Raum. Der Verdacht tauscht die spekulative Ebene gegen eine nicht weniger spekulative, aber als wahr angenommene mediale Realität ein. In diesem Zusammenhang sei an die Verhaftung des Berliner Soziologen und Universitätsprofessors Andrej Holm erinnert. Am 31. Juli 2007 wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhaftet, weil sich in einem Bekennerschreiben der sogenannten „Militanten Gruppe“ die Vokabeln „Gentrifizierung“ und „Prekarisierung“ fanden, die Holm in seinen Veröffentlichungen auch benutzte, wie das BKA in glorioser Internetrecherche herausfand. Die Anklage musste später fallen gelassen werden, die Militante Gruppe stellte sich als kriminelle Vereinigung heraus und nicht als terroristische. Die Verbindungen zur Gruppe konnten dann doch nicht nachgewiesen werden, da das Fehlen von Kontaktdaten eben nicht konspirativer Natur war, so der Verdacht der Staatsanwaltschaft, sondern wohl eher nicht existent. Ein falscher Verdacht der offenlegt: die offensichtlich gewordene Totalüberwachung der Bürger hat nicht dazu geführt, dass diese gesteigerte Überwachungskompetenzu einer grösseren Effizienz bei der Erfassung von Straftaten geführt habe. Spiegelt auch hier die Technê der Überwachung die Fantasmagorien der Staatsanwälte und ermittelnden Behörden? Eine Antwort erlaube ich mir, juristische Komplikationen vermutend, nicht und verbleibe, mit herzlichen Grüßen aus dem Celler Loch!