Ungezwungenheit
in den Umgangsformen, in der Garderobe, Gelassenheit im Benehmen.
Aufmerksam sehend, die Sinne geschärft, trotzdem aber ausgelassen,
in sich selber ruhend, gewähren lassend, ohne sich selbst verstellen
zu müssen und vor allem den elementaren Unterschied zwischen dem
Selbst und dem Kunstwerk vorbehaltlos hinnehmend. So stelle ich mir
das Verhältnis das Verhältnis von Mensch und Kunst vor. Dem
Kunstwerk erlaubt man, sich Dinge unumwoben ins Gesicht sagen zu
lassen. Auch umgedreht sollte die Kunst einer Befragung nicht
entweichen. Nun kann das Gemälde sich dem Betrachter schlecht
entziehen. Es öffnet sich per se dem geduldigen Besucher, den es in
all seiner Höflichkeit erwartet, selbst wenn es ihm unangenehme
Wahrheiten unterbreiten muß.
Der
Besucher seinerseits, kann diese Höflichkeit erwidern, indem er dem
Kunstwerk alle Aufmerksamkeit schenkt. Tritt man ins Museum, so zeigt
sich der Kunstbeflissene unbekümmert. Er kennt die Regeln, er weiß
sich zu benehmen. Die Statistiken beweisen1 :
Die meisten Museumsbesucher gehören gehobenen Schichten an, ebenso
wie die meisten Kustoden und Kunsthistoriker. Die Benimmregeln in
einem Museum ähneln dem bildungsbürgerlichen Habitus. Die
wenigen Besucher ohne entsprechende Erziehung oder Erfahrung tappen
unsicher von einem Fettnäpfchen ins Nächste. Ist man Kunstliebhaber
oder Kunstprofi und dem Gang ins Museum also vertraut, so fallen
einem diese unsichtbaren Benimmregeln nur noch auf, wenn jemand sie
bricht. Fast immer, so scheint es, geschieht dies aus einer
gewissen Unbedarftheit. Nicht selten registriert man das
Fehlverhalten mit strafenden Blicken, die stellvertretend dem
Trampel, der gerade die Skulptur angefasst und die Alarmanlage
ausgelöst hat, den heiligen Ernst der Kunst bedeuten wollen. Der
Betroffene sucht vergeblich, seinen Faux-Pas mit einem Lächeln zu
überspielen. Aber er erntet damit keinerlei Sympathien. Das Lachen
gefriert und der Ungeschickte trollt sich weg. Er schämt sich. Die
anderen finden es peinlich.
Die
Scham und die Peinlichkeit, so schreibt Norbert Elias, sind Resultate
von Umkehrungen des Fremdzwangs in den Selbstzwang2.
Der Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze des Museums erfüllt
den Übertreter mit Scham, den Beiwohner mit peinlichem Gefühl. An
die Kunst aber denkt dabei niemand. Ihr ist diese Übertretung, nimmt
sie daran keinen Schaden, in den meisten Fällen egal. Denn der
angesprochene Selbstzwang obliegt mehr dem Ordnungssinn der
Kunstinstitution und weniger den Regeln der Kunst selbst. In nicht
wenigen Kunstwerken wurde versucht, diese musealen Vorschriften und
Benimmregeln außer Kraft zu setzen. Und eben nicht selten widersetzt
sich die museale Ordnung der Kunst. Wenn zum Beispiel die Alarmanlage
die Näherung an ein Bild von Mark Rothko auf die vom Künstler
ersonnene Distanz verhindert. Oder aber bis zu dem Punkt wo der
Künstler zugunsten der musealen Ordnung sich selbst zensiert.
Vielleicht standen konservatorische Motive im Vordergrund,
vielleicht nur der Wille zum monolithischen Schlußresumées eine
Gesamtwerks, als Franz Erhard Walther mittels musealen Verbots
« Werkhandlungen », an seinen Kunstwerken -wie 2013 in
der Hamburger Kunsthalle- nicht mehr gestattete. Die von ihm
ursprünglich angestrebte Demokratisierung des Werks, ohnehin schon
durch stringente Anweisungen des Künstlers zum « freien »
Gebrauch des von ihm zur Verfügung gestellten Materials in Frage
gestellt, verschließt sich vollends hinter der strengen Einhaltung
einer musealen Ordnung.3
Wie
auch immer, schließt die museale Ordnung technisches Fehlverhalten
und Allzumenschliches aus. Beim sozialen Kunstwerk kann das
technische Fehlverhalten Bestandteil der künstlerischen Inszenierung
werden und die Übertretung von Schamgrenzen zur perfiden
Hausordnung. Wohlgleich ist jeglicher Blick hinter die Kulissen der
Institution tabu. Die Verschwiegenheit um die Geheimnisse der
Institutionsorganisation ist das erste der ungeschriebenen Gebote des
Kunstbetriebs. Doch geht es dabi nicht nur um mehr oder weniger
schmutzige Details der Ausstellungsfinanzierung, um
Praktikantenausbeutung oder pikante Details aus der Belegschaft. Das
Museum oder die Galerie verbirgt ja noch viel mehr hinter seinen
weißen Wänden und den nüchternen Displays der Kunstinstitution
verbirgt sich ein komplexes Dispositiv: Die Distanziertheit,
welche die museale Ordnung vom Besucher fordert, also ; keine
übertriebenen Reaktionen, keine Bewegung
außerhalb der vorgegebenen Bahnen, keine lauten Unterhaltungen - schon gar
nicht mit dem Aufsichtspersonal - und sich niemals die Blöße geben,
von der Kunst nicht allzuviel zu verstehen -diese Form von
Distanziertheit findet also ihre Entsprechung im Dispositiv der
Institution. Diese gibt sich betont zurückhaltend und ist sets sehr
darauf bedacht, den Kunstgenuss nicht zu trüben durch die Offenlegung der für ihre
Präsentation erforderlichen Prozesse. Wie bei der
Essenszubereitung der Prozess, zum Beispiel das Töten von Tieren4,
oder die schlechten Arbeitsbedingungen in der Küche, unkenntlich
gemacht wird, so soll auch dem Kunstgeniessenden der Geschmack nicht
vergehen. Sei es durch ein Verhalten, das diesem
Geschmack widerspricht, sei es durch die Offenlegung von problematischen Details der Acquise, der Finanzierung mit beispielsweise
Blutgeld, der Arbeitsstrukturen, schlechten Löhnen im
Ausstellungsaufbau, der Praktikantenausbeutung, der Unansehnlichkeit
des Kunsttransports und der Hängung, politischer Einflussnahme auf
die Sammlungspolitik, der Wille karrieristischer Kuratoren, sich zu
kompromittieren und allerhand unappetitliches aus den Hinterzimmern
der Museen.
Das
schwierige Verhältnis von Fremd und Selbstzwang spielt auch eine
besondere Rolle beim sozialen Kunstwerk. Es kann uns in einer Art
herausfordern, welche dem Selbstzwang geradezu sublimatorische Form
geben kann. Einerseits verlangt es unter Umständen, sich einer
erweiterten Museumsordnung zu unterwerfen, gerade auch wenn sie
vorgibt, alte Ordnungsmuster aufzubrechen. Indem das Werk dazu
einlädt, bekannte Verhaltensmuster aufzugeben und neue Wege zu
beschreiten, fordert es vom Betrachter den vollen Willen zur Hingabe
an das Werk. Die körperliche Involvierung, die Unterwerfung des
Körpers unter die Gesetze eines Kunstwerks, geben, für alle
sichtbar, Aufschluß über Ergebenheit und Demut gegenüber der
Kunst. Die körperliche Verweigerung gegenüber dem Werk, stelht selten in einem guten Licht. Selten wirkt sie als arrogant. Meist kommt sie einem
offenen Bekenntnis zum Banausentum gleich. So verbleibt den armen
Ausstellungsbesuchern kein Ausweg aus dem Dilemma zwischen der
Schmach als Ignorant dazustehen oder der beschämten Teilnahme, in
der sie ihre Selbstbestimmtheit, vielleicht auch eine würdevolle
Haltung, aus dem Willen zur Kunst heraus, aufgeben müssen. Sie müssen
partizipieren. Ob dabei die Kunst, wie durch allfälliges Museumsmarketing
angepriesen, genossen werden kann, ist fraglich. Verlangt die Kunst
mitunter auch anstrengende geistige Leitung von den Betrachtern, so kann
diese immer noch den Genußfähigen eine positive Sinnesempfindung
darstellen. Der Umkehrschluss gilt bisweilen nicht. Wird man aber zum Subjekt der Prüfungen und Versuchsanordnungen von Künstler und Institution, verletzt die Frage nach dem Genuss das Tabu, das durch die moralische Anrufung oder das imperative Spiel gesetzt ist. So werden aus Besuchern Banausen, Spielverderber und Frevler.
Eine
besondere Herausforderung an den Betrachter stellen solche Werke, die
zu moralischem Handeln zwingen, beziehungsweise die Moral des Betrachters auf
die Probe stellen. Ein Klassiker ist Yoko Ono's « Cut Piece ». Auch wenn die Künstlerin das Verhältnis von geben und nehmen anders
bewertete, den Aspekt des Gebens stärker betonte, so ist letztlich
doch die -durchaus auch ökonomisch gemeinte- Frage : Wieviel nehme
ich ? Die Künstlerin sitzt in ihrem besten Kostüm da, wieviel
nimmt man ihr davon weg? Nota bene: Yoko Ono war bei den ersten
Aufführungen 1965 noch arm. Wieviel aber, und das scheint trotz
allem die viel wichtigere Frage, nehme ich ihr von ihrer Würde, wie
sehr möchte ich dazu beitragen, daß die Künstlerin sich schämt ?
Die Anwesenden gehen schon bald vom Sammeln von Stoffetzen über zum
Freilegen des Körpers. Als einer der Zuschauer Ono die Träger des
Büstenhalters durchschneidet und so ihren Busen freilegt, bedeckt
sie ihre Brüste. Das Schamgefühl der Künstlerin wird
offensichtlich. Spätestens jetzt überträgt sich das Schamgefühl
auf die Partizipienten. Bei der 1965 Aufführung in New York wird der
Mann (er hält sich für witzig) der den Büstenhalter auftrennt, der
Unmut des Publikums zuteil. Sie finden ihn peinlich. Eine Stimme aus
dem Publikum ruft ihm zu : « Cornball ! ». Das
Fremdschämen wird so zum Ausdruck von Moral, ganz egal wie subjektiv
man mit dem Verdikt des Publikums einverstanden ist. Die Umkehrung
von Fremd- und Selbstzwang ist gelungen und die Performance gelangt
nachhaltig zu Wirkung.
Die
performativen Arbeiten von Flatz sind ganz Prüfung : Spektakel
oder Nächstenliebe ? Weitergucken oder die Selbstquälung des
Künstlers unterbrechen ? Indem Flatz die Verantwortung in die
Hände der Betrachter legt, verkehrt auch er Selbst- und Fremdzwang. Allerdings invertiert er einen von ihm gesetzten Selbstzwang zum
Fremdzwang, indem er das Publikum, stärker als die erwähnte Yoko
Ono, ethischem Zwang aussetzt. Statt der Passivität des Anguckens
ist die Intervention gefordert. Nichts zu tun, wird moralisch
fragwürdig, wird zur Schande.
Legendär
das Beispiel eines dänischen Künstlers Marco Evaristti, der in
einer Ausstellung lebende Goldfische in zehn Küchenmixern
beherbergte5.
Die Tiere schwammen sorglos in den etwas klein geratenen Aquarien.
Dem Besucher oblag es, den Funktionsschalter des Mixers zu bedienen
oder eben nicht. Das Werk wäre wohl keiner weiteren Erwähnung wert,
wenn nicht ein Besucher eines der armen Tiere durch Betätigen des
Schalters püriert hätte. Das Werk Evaristtis entfaltet seine volle
Bedeutung in dem Moment, in dem es ihm gelingt, den Zeigefinger auf
die verdorbene Moral des Ausstellungsbesuchers zu richten, der
stellvertretend für die gesamte Menschheit die profunde Bösartigkeit
des Menschengeschlechts vorführte. Fast könnte man meinen, der
Künstler habe diese Übertretung wohlwollend in Kauf genommen. Ein
anderes Werk, « Occasion » von Cildo Meireles, gezeigt im
Frankfurter Portikus6
bestand aus zwei Räumen, getrennt durch einen halb durchlässigen
Spiegel. Im ersten Raum befand sich nichts, außer einem Podest,
darauf eine Schale mit Geldscheinen und Münzen. Das Werk versuchte,
getreu dem Motto « Gelegenheit macht Diebe » den Besucher
zum Diebstahl zu verführen, sich gleichzeitig aber mit den
aufblitzenden eigenen Moralkonventionen zu konfrontieren. Dabei
konnte man sich dann selbst ertappen, in dem man sich beim Stehlen im
Spiegel erblickt. Von der durchlässigen Seite aus, im anderen Raum,
konnte man den Dieb im peinlichen Moment des Zusammenbruch seiner
Moral erwischen, bzw. die Veruchung und das Ringen mit den eigenen
Moralvorstellungen des Besuchers im anderen Raum beobachten. Diese
künstlerische Arbeit stellt vielerlei Fragen und Anforderungen an
das Publikum. Soll man den Geldschein nehmen ? Soll man ihn
nehmen, selbst wenn man weiß, daß man beobachtet werden könnte ?
Soll man den Dieb, so man ihn erwischt, melden oder soll man sich zum
Komplizen machen, weil man sich vielleicht davor schämt, den anderen
bloßzustellen, oder davor, sich selbst zum Vigilanten, zum
Denunzianten zu machen ? Oder soll einem gar die eigene
Indifferenz gegenüber einem solchen Diebstahl vor Augen geführt
werden ? Wie dem auch sei, in beiden Beispielen wird niemand die Moral des Kunstwerks in Frage stellen, sondern immer nur die
Betrachter, die dieser Prüfung, haben sie einmal den Raum betreten,
ausgeliefert sind.
Am
Beispiel eines Werks von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz ließe
sich das mit noch größerer Deutlichkeit zeigen7.
In Harburg errichteten sie 1986 ein Mahnmal für die im Holocaust
ermordeten Juden. Es handelte sich dabei um eine mit Blei ummantelte
Stele, die durch eine daneben befindliche Tafel auf ihren Sinn
hinwies. Mit Stahlstiften konnten Passanten in das weiche Blei ihre
Unterschrift ritzen, um ein Zeichen gegen Faschismus zu setzen. Die
12 Meter hohe Stele wurde in acht Schritten abgesenkt, bis sie
schließlich ganz verschwunden war. Die Unterschriften, aber auch
alle Kommentare, Schmierereien und Beschädigungen wurden somit für
eine unbestimmte Nachwelt festgehalten.
Natürlich war es von Gerz einkalkuliert, daß es anti-semitische
Äußerungen, nazistische Schmierereien und allerhand Einträge geben
würde, denen es am nötigen Ernst mangelte. Hierbei unterzieht er
aber nicht ein gebildetes Kunstpublikum einem Moralcheck, sondern
auch Otto Nomalverbraucher. Was das Künstlerpaar hierdurch bewirkt,
ist daß er einerseits an den Ernst des Gedenkens appeliert. Aus dem
Kunstrahmen herausgesprengt, fragt er welche Würde das Gedenken
besitzt, wo das Erinnern schwindet. An die Öffentlichkeit gewendet,
fragt das Werk nicht nach dem feierlichen Ernst der Kunst. Es fragt
nach dem öffenlichen Umgang mit dem Gedenken und klammert dabei
offizielle Agendas des Gedenkens aus. Durch die Unmißverständlichkeit
seiner Mission und die Unmöglichkeit, das eingetragene zu
revidieren, eröffnet das Werk die Möglichkeit, sich analog zur
versinkenden Stele, in Grund und Boden zu schämen und über eine
Gesellschaft nachzudenken, die so Schreckliches verbrochen hat und so
wenig Ernsthaftigkeit oder gar noch so viel Beschämendes im Gedenken
aufbringt.
Allen
genannten Werken ist gemeinsam, daß es zu ihrem Verständnis
keinerlei Spezialwissen der Kunstliebhaber bedarf und das richtige
Verhalten zu ihnen sich aus dem gesunden Menschenverstand ergibt, an
den sie alle appellieren. Alle sprechen die Betrachter gleich an, als
entscheidende Wesen und nicht als Museumsbesucher, als
Kunstliebhaber, als Bildungsbürger. Aber ist Kunst, die ihren Kunstcharakter ausblendet oder verschleiert gegenüber den Betrachtern fair?
1Pierre
Bourdieu, Alain Darbel, Die Liebe zur Kunst, UVK Konstanz 2006,
Tl.I, S.33 ff.
2Norbert
Elias, Prozess der Zivilisation ; Bd.1, S.184
3Petra
Schellen, « Rückfall in die Vergangenheit », Rezension,
taz vom 18.4.2013
4Bernhard
Rathmayr, Zwang und Selbstverwirklichung, Transcript, Bielefeld
2011, S,142
5« Goldfische
im Mixer », Meldung im Tagesspiegel vom 25.11.2000
6Cildo
Meireles, « Occasion », Ausstellung Nr. 124, Portikus,
Frankfurt am Main, 2004
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen