Montag, 15. Juli 2013

Auf dem medialen Schafott

von Diego Castro
erschienen im Neuen Deutschland vom 22.06.2013

Bei einem Attentat am 22. Mai enthaupteten zwei islamistische Attentäter einen Soldaten in
London auf offener Straße. Die Tat glich einer Hinrichtung. Das Opfer war willkürlich gewählt.
Danach posierten sie mit den blutigen Messern vor der Kamera.
Es begab sich im 11. Jahrhundert. Die aus Byzanz stammende Dogaressa von Mailand fiel am Tische
Orseolos II. durch die Benutzung einer Gabel äußerst unangenehm auf. Was bei den Byzantinern längst
als etabliert galt; in der Republik Venedig war es ein ausgesprochener Skandal. Damals wurde am
fürstlichen Hof noch mit den Fingern gegessen. Wie der Anthropologe Bernhard Rathmayr berichtet,
wirkte der Einsatz eines solchen „Distanzierungsinstruments“ als eine so eitle und übertriebene Geste,
dass sie als „Affront gegenüber den Tischgenossen“ gewertet wurde. Doch die Tischsitten änderten
sich. Bis jedoch die Gabel sich an europäischen Tafeln etablieren sollte vergingen noch Jahrhunderte.
Was indes den Gebräuchen bei Hofe widersprach, wurde sprichwörtliche Unhöflichkeit. Distanz sollte
in jeglicher Hinsicht bald zum guten Ton gehören. In Bezug auf das Essen ebenso wie zur körperlichen
Nähe überhaupt. Die Wahrung von Abstand, mit Gabel, Galcéhandschuhen und distanzierter Geste
wurden zum Ausdruck von Kultiviertheit schlechthin.
„Für das Gefühl vieler Chinesen ist die Art, wie die Europäer essen unkultiviert“, so Norbert Elias in
seinem Werk 'Prozess der Zivilisation'. Die Europäer galten dort als Barbaren, da sie mit dem Schwert
äßen. Gemeint war damit der Gebrauch eines Messers. In der Tat ein Tötungsinstrument bei Tisch.
Auch heute noch zeugt die Abrundung der Spitze des Tafelmessers von der fortgeschrittenen
„Entwöhnung von direkter Gewaltsamkeit“. Doch auch in Bezug auf das Schwert zeigte sich im fernen
Osten eine andere Kultur. Im Gegensatz zum europäischen Schwertkampf wurden Kampfbewegungen
bei den Samurai eher schneidend denn schlagend eingesetzt. Hierzulande kämpfte man mit
vergleichsweise klobigen Hieb und Stichschwertern. Anders im fernen Osten, wo Leichtigkeit und
Schärfe bestimmten. Beim Harakiri galt eine besonders scharfe Klinge als große Ehrerbietung. Das
Schwert des Sekundanten teilte dabei Kopf vom Rumpf, ohne ihn jedoch gänzlich abzutrennen. Das
hätte als ehrlos gegolten, denn so wurden gemeine Verbrecher gerichtet. Harakiri war jedoch den
Adligen vorbehalten und galt der Wiederherstellung der Ehre nach Gesichtsverlust.
Vor der Einführung der Guillotine wurde die Strafe des Enthauptens bei uns mit dem Schwert oder
dem Richtbeil vollstreckt. Das Abtrennen des Kopfes durch die Klinge galt hier nicht als unehrenhaft.
Ganz im Gegensatz zum qualvollen Tod durch den Strang, dem sich zu stellen nichts Ritterliches
anhaftete. Daher war also auch bei uns die Enthauptung dem Adel vorbehalten. Im Zuge der
französischen Revolution wurde dieser Klassenunterschied abgeschafft. Da vor dem Gebrauch des
Fallbeils aber bei vielen Hinrichtungen mal ein Hieb daneben ging, ließ sich der barbarische Charakter
des Scharfrichtens kaum leugnen. Hinrichtungen waren öffentliches Spektakel. Zunächst ging es dabei
eher um die öffentliche Darstellung der Marter. Vielfach waren es quälerische und langatmige Folterund
Tötungsprozeduren. Ziel war die Bestrafung des Körpers. Teils dienten sie der Abschreckung, teils
der Selbstdarstellung der Obrigkeit. Die neue Macht des Volkes repräsentierte sich anders. Fortan war
man bei Ausübung von Staatsgewalt um die Darstellung der eigenen Rechtschaffenheit bemüht. Die
Republik konnte nicht mehr auf das althergebrachte Repertoire artistokratischer Legitimationen
zurückgreifen. Man rechtfertigte sich nunmehr mit Gerechtigkeit und Gleichheit. Vom Anruch der
Rachsucht oder der Willkür der Aristokratie distanzierte man sich, dank der Köpfmaschine des Dr.
Guillotin.
Das „Richten mit trockener Hand“ wurde also dem „Richten mit blutiger Hand“ vorgezogen. Es
entsprach dem erwachenden Diskretionsbedürfnis der Strafe ausübenden Macht. Die Guillotine
versprach einen präzisen Schnitt und einen schnellen und „humaneren“ Tod. Exekutionen mit
technischen Distanzierungsmitteln werden zum geheimen Ausdruck von Zivilisiertheit.
Zunehmend verschwindet die Bestrafung aus der Öffentlichkeit. Früher waren die Bestrafungen
öffentlich und die Prozesse geheim. Heute ist es eher umgekehrt. Wir reagieren unserer Tage auf
Steinigungen und Exekutionen durch martialisches Gerät mit Empörung, während offenbar der
elektrische Stuhls, die Gaskammer oder die Giftspritze weniger Abscheu hervorrufen: Bei diesen
Tötungsarten wird die Gewalt an Maschinen delegiert. Wie es scheint, bewahrt uns auch hier der
Einsatz von Distanzierungsgeräten vor der Offenbarung der eigenen Barberei.
Auch die Tatsache, dass Bilder hiervon reglementiert sind und wenig zirkulieren verschont uns. Was
sich in unserer visuellen Kultur nicht in Bildern darstellt, kommt kaum noch in Erklärungsnot. Vor
wenigen Jahren wurde in einigen Teilen Amerikas die Fernsehübertragung von Exekutionen diskutiert.
Der Frage, ob das gut oder schlecht sei, mangelt es wohl nicht an Komplexität. Würde es Abschreckung
vor Verbrechen hervorrufen oder Abscheu gegenüber der Macht?
Nicht selten werden heute kriegerische und gewalttätige Akte dank technoider Bildproduktion in einer
Weise darstellbar, welche die Ausübenden nicht als unmenschlich erscheinen lässt. Wenn man so will,
sind Guillotine, präzisionsgelenkte Munition oder aktuell der Einsatz von Drohnen Sublimierungen
dieser Technik. Längst eignen sich die Bilder, die wir aus Irak- oder Afghanistankrieg kennen, nicht
mehr, um die Brutalität des Krieges darzustellen. Zu abstrakt sind sie und zu sehr repräsentieren sie
die Technologien, die sie hervorbringen.
Die Nationalsozialisten sollten den Tod durch öffentliche Strangulation als besonders entwürdigende
Todesart für politische Gegner wieder einführen. Dies war Teil eines Terrors, der eben auch mit
öffentlicher Darstellung operierte. In den späten sechziger Jahren machte ein Foto des Bildjournalisten
Eddie Adams Geschichte. Es zeigt, wie der Polizeipräsident von Saigon aus nächster Nähe einen
Vietcong-Kämpfer mit einem Kopfschuss hinrichtet. Das Bild bewegte die Weltöffenlichkeit, schien es
doch die Brutalität der westlichen Welt zu entlarven. Als das Bild an die Öffentlichkeit gelangte,
markiert es vielleicht den Beginn einer neuen Macht der Bilder. Manche US-Politiker machten sogar die
Medien dafür verantwortlich, dass die USA den Krieg verloren, da an der sogenannten Heimatfront der
Rückhalt aufgrund solcher Aufnahmen bröckelte. Besagtes Bild ist vielleicht die Ikone einer sich
demokratisierenden Bildpolitik. Der Umlauf der Bilder entzieht sich immer weiter staatlicher
Kontrolle. Die Bilder machen ihre eigene Politik. Der Fotograf selbst sagte später über sein Bild: „Der
General tötete den Vietcong; mit meiner Kamera tötete ich den General. Standfotos sind die mächtigste
Waffe der Welt. Man glaubt ihnen, doch Fotos lügen, selbst wenn sie nicht manipuliert sind.“
Enthauptungen von Soldaten durch Al-Kaida Kämpfer vor laufender Kamera sollen Terror verbreiten.
Einen Terror der Bilder. Die so entstehenden Darstellungen werden mittels neuester
Kommunikationsformen dem westlichen Bilderregime entgegengestellt. Videoplattformen und soziale
Netzwerke werden zum medialen Schaffott. Dabei dienen diese Bilder ihren Feinden mehr, als dass sie
ihnen schaden. Dankbar nimmt das westliche Selbstverständnis den Beleg für den barbarischen
Charakter anti-westlicher, anti-aufgeklärter Ideologien entgegen. So arbeiten Terroristen ungewollt
den westlichen Propagandamaschinen zu. Die vor zwei Wochen aus England gemeldete Tötung und
Beinahe-Enthauptung eines britischen Afghanistan-Soldaten durch Islamisten, bediente den selben
Effekt. Mediengeil inszenierten sich die Mörder mit dem Schlachtemesser vor den Kameras. Es war
klar: Was sie taten, taten sie für die Kamera. Es ist die Antwort auf die Abstraktion der Kriegsbilder.
Das Motiv ist dabei nicht neu. Die Barberei des Krieges in die westlichen Metropolen zu bringen, war
bereits Inspiration des Flugblatts Nr. 7 der Kommune I, das zwischen brennenden Konsumenten und
„knisterndem Vietnamgefühl“ Verbindungen zog. Jedoch hat sich die Instrumentalität der Bilder heute
vollkommen geändert. Es geht nicht mehr darum, die Brutalität des Krieges zu vergegenwärtigen. Die
Bilder sind selber zu Waffen eines Krieges, der gerade mit Archaik die technologische Macht zu
bekämpfen sucht. Während die westliche Staatsgewalt sich bei Tötungen auf den Schutz der
Gemeinschaft oder des Weltfriedens beruft, sieht sie sich plötzlich einer zivilisatorisch zutiefst
abgelehnten Bestrafung und Vernichtung des Körpers ausgesetzt, die sich darüber hinaus nicht
legitimieren zu wollen scheint. Die Willkürlichkeit dieses Terrors versetzt uns in Panik. Gelingt es uns
nicht, uns vom Terror der Bilder zu distanzieren, so hat dieser bereits gesiegt.

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