Sonntag, 25. Oktober 2009

Polizeikultur und autoritärer Charakter

Diego Castro
There's one in every crowd


Ausstellung/ Exposition bei/ à

standard/ deluxe


http://www.standard-deluxe.ch/

Rue st. Martin 38bis(bis), CH-1005 Lausanne

Vernissage: 6 nov 2009, 19h

Exposition du 7. au 27. novembre 2009
Ausstellung vom 7. bis zum 27. November 2009

Ouvertures les samedis 7. et 14.11. 14h - 18h
Geöffnet Samstags 7. und 14.11. 14h - 18h
Le vendredi/ Freitag, 27.11. 17h - 22h

Visite sur rendez-vous:
oder nach Vereinbarung:
078 808 5774 / 078 846 7722
In der Ausstellung “There’s one in every crowd” setzt sich der aus Hamburg stammende Künstler Diego Castro mit dem autoritären Charakter in Form der Polizei auseinander. In den Medien Zeichnung, Wandmalerei, Video und Klanginstallation beschäftigt er sich an historischen Beispielen mit strukturellen und psychologischen Aspekten der Polizeikultur und des staatlichen Gewaltmonopols.

“POLIZEI-SA-SS” War ein Song der Hamburger Punkrock Band “Slime”. Der in den 80er Jahren entstandene Song wurde als “Jugendgefährdende Schrift” indiziert und bis heute ist wegen Verunglimpfung der staatlichen Autoritäten das Spielen oder Aufführen des Liedes verboten. Ich plane eine Klanginstallation, bestehend aus 5 Tonspuren auf denen ich den Song in jeweils isolierten Spuren performe, d.h. Bass, Gitarre, Schlagzeug und 2 sich ergänzende Gesangsspuren. Der verbotene Text ist dabei so in Fragmente aufgeteilt, dass er als einzeln für sich genommen keinen Widerspruch gegen geltendes Verbot darstellt.
Die einzelnen Spuren werden nicht synchronisiert, sondern laufen unabhängig von einander, so dass nur ein Zufall von Überschneidungen eine juristische Situation darstellen kann, in der das polizeiliche Verbot juristisch greifen würde. Durch die zufallsgesteuerte Aufführung wird der gesamte Ausstellungsraum auch zu einem juristischen Raum, der sich dem Schicksal und eventuellen Wachhunden des Gesetzes aussetzt.

In einer Serie von 23 Zeichnungen über Karl-Heinz Kurras, den Polizisten der den Studenten Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967 bei einer Demonstration erschoss. Der damalige Zwischenfall geschah während einer von Studenten organisierten Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs vor der Berliner Oper. Die Polizei ging hier grundlos und mit äusserster Härte gegen die Studenten vor. Während der brutalen Polizeiaktion erschoss der Zivilbeamte Kurras den unbeteiligten Studenten Ohnesorg ohne Grund in den Hinterkopf, nachdem mehrere Polizisten gleichzeitig mit Schlagstöcken auf ihn eingedroschen hatten. Der Mord an Benno Ohnesorg hatte Folgen. Im darauf folgenden Gerichtsverfahren, in dem Beweisstücke (unter anderem ein Stück von Ohnesorgs Schädel) verschwanden, gegensätzliche und offensichtliche Falschaussagen vom Gericht hingenommen wurde, ein Prozess, in dem selbst der Staatsanwalt, die Anklage auf Totschlag nicht zuliess, sondern in “fahrlässige Tötung” umwandelte, zeigte sich das Funktionieren eines Staates, in dem immer noch Nazis die Funktionen des Staatsapparates in grosser Zahl besetzten in seiner brutalen Totalität. In diesem Z
usammenspiel aus Justiz, Polizei und parteiischer Presse, wurde Kurras freigesprochen. Diese skandalösen Vorgänge führten zu einer Radikalisierung der Studenten, welche letztlich einige in den Terrorismus führen sollte.

Der Zyklus über Kurras nimmt somit Bezug auf Gerhard Richter’s Stammheim-Zyklus, der das Scheitern der Baader-Meinhof Gruppe in der Stammheimer Todesnacht, und somit das Scheitern einer gesamten politischen Bewegung kommentiert. Der doppeldeutige Titel der Ausstellung “There is one in every crowd” spielt auf das berühmte Bild von Andreas Baader’s Plattenspieler in seiner Gefängniszelle an, auf dem die letzte Platte lag, die er vor seinem Tod hörte: Die gleichnamige LP von Eric Clapton.

Castro’s Kurras-Zyklus nimmt Bezug auf den Anfangspunkt dieser politischen Bewegung, in welcher der Auslöser der Entfremdung gegenüber dem Staat im Mittelpunkt steht: der autoritäre Charakter in Form von Karl-Heinz Kurras. Die Serie reagiert auch, aus aktuellem Anlass, auf die kürzlich entdeckte Stasi-Vergangenheit Karl-Heinz Kurras. Obwohl die Stasi Kurras, als einen ihrer Top-Agenten, keinen Provokationsauftrag erteilte, wurden jüngst Stimmen laut, die aus seiner Stasi-Mitgliedschaft schlussfolgern wollten, die Geschichte der 68er Bewegung müsse daraufhin als eine von Moskau gelenkte Infiltration umgedeutet werden. In Wahrheit aber bleiben die historischen Fakten unverändert: Der westdeutsche Nachkriegstaat, geführt von alten Nazis in Justiz, Politik und Polizei, sprach einen Mörder frei und stellte somit seine scheinbar undurchdringlichen faschistischen Strukturen offen zur Schau. Kurras indes, der Waffennarr, dessen liebste Freizeitbeschäftigung das Schiessen war, und der monatlich eine Summe von 400,- DM für Munition ausgab, dem Herbert Marcuse bescheinigte, er spreche von Studenten im selben Tonfall wie die Nazis über Juden, lebt heute mit einer Rente der Polizei unbehelligt in Berlin. Er fiel dadurch auf, dass er Kindern in seiner Nachbarschaft das Schiessen beibrachte und einem Kind sogar eine Schusswaffe schenkte, oder dadurch, dass er sich vor Nachbarn mit der Erschiessung Ohnesorgs rühmte, dann aber Zeugen dieser Aussage massiv bedrohte. Für Castro repräsentiert Kurras den autoritären Charakter per se, nicht etwa trotz seiner Tätigkeit als Spion der Stasi, sondern auch gerade deswegen.

Eine Videoarbeit collagiert Elemente aus der Verfilmung von Heinrich Manns Der Untertan und Roberto Rossellini’s “Deutschland, Stunde Null. Mann’s Untertan ist die erste künstlerische Auseinandersetzung mit dem Typus des autoritären Charakters. Dagegen steht die Figur des ehemaligen Hitlerjungen, der nach dem Zusammenbruch der autoritären Strukturen jeglichen Halt verliert und sich zu Tode stürzt.

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