Mittwoch, 19. August 2009

Der Kontrollstaat und die Diktatur des Betrachters

Der folgende Text wurde im Rahmen der Ausstellung "Complete Control" im Kunstverein APEX e.V. in Göttingen vorgetragen. Weitere Infos unter:http://apex-pro-art.blogspot.com/ und unter http://www.apex-goe.de/ sowie im Göttinger Tageblatt.

Complete Control
Überwachung und freiwillige Selbstkontrolle

von Diego Castro und Chris Schindler

Im Zeichen der viel beschworenen Informationsgesellschaft ist die Konfrontation mit neuen Wegen der Information und deren Auswirkung auf private und öffentliche Räume eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen, denen die moderne Demokratie ausgesetzt ist. Zwei zentrale und miteinander konkurrierende Konzepte sind sicherlich die Begriffe ‚Freiheit’ und ‚Sicherheit’, deren herkömmlichen Definitionen zur Zeit durch die Ausformulierung einer neuen sicherheitspolitischen Agenda zur Disposition stehen.

Verhandelt werden hier in gleicher Form digitale und öffentliche Räume und deren Ausgestaltung.Eine Debatte, die nicht weniger als einen Kampf um Deutungshoheit darstellt.

Die Vielgliedrigkeit der Diskurse reicht von der zunehmend flächendeckenden Kameraüberwachung urbaner Konsumräume, digitaler Einflussnahme mittels Bundestrojanern über Städtebauliche Interventionen zur Regulierung öffentlicher Sicherheits- und Konsumzonen, bis hin zur Frage nach der richtigen strafrechtlichen Verfolgung von Sprayern, die sich außerhalb einer bananenfarbenen hochkulturellen Wärme bewegen.

Ein Phänomen von Kontrollnahme im öffentlichen Raum, das von vielen Menschen gar nicht erst wahr genommen wird, ist ein Interventionismus staatlicher aber auch verstärkt privater Natur. In der Städteplanung haben die letzten 15 Jahre extreme Entwicklungen zur polizeilosen Kontrolle von öffentlichen Räumen hervorgebracht.

Gated Communities bringen eine neue Segregation hervor, in der nicht mehr eine als problematisch empfundene Gesellschaftsschicht ghettoisiert wird. Hier bauen die Reichen sich selber Ghettos, die Trutzburgen gegenüber einer als konsequent bedrohlich empfundenen Aussenwelt darstellen.

Innerstädtische Bereiche werden zu Bannmeilen, die sich bei Krisenalarm in Minutenschnelle in Hochsicherheits-Sperrgebiete verwandeln. Befeuchtete Böden verhindern das Verweilen auf Plätzen, Anti-Kletter Farbe und Anti-Grafitti Farbe tun das Ihrige.
Unbeheizte Flure und lange Wartezeiten auf Sozialämtern sollen die Antragstellung auch körperlich unangenehm gestalten.

Die Mehrung von Schwarzlicht in den Hausfluren bei gleichzeitiger Einstellung von Methadonprogrammen zielt auf die Vertreibung von Drogenabhängigen ab.

In Einzelsitze unterteilte oder extrem schmale Parkbänke, auf denen man nicht liegen kann, sind Obdachlosen-feindliche Ungerechtigkeiten, die von den Betroffenen oft nur noch als unüberwindbares Schicksal hingenommen werden.

Mit der lakonischen Bemerkung, man könne ja doch nichts machen, erteilt man Initiative und Solidarität im vornherein einen Platzverweis. Dabei scheinen der undemokratische Charakter solcher Interventionen in einem Klima zu entstehen, das die Verordnung solcher Eingriffe in das öffentliche Leben, am Bürger vorbei, am Bewusstsein vorbei, einfach geschehen lässt und sie nur selten ins Zielfeld einer Kritik gelangen lässt, die aus einem Bürgerbewusstsein für das ensteht, was öffentliches Interesse überhaupt ist.

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung, die für den virtuellen Raum andere Gesetzmässigkeiten als für den realen Raum imaginiert, haben die jüngsten regulatorischen Entwicklungen im Cyberspace gezeigt, dass das Internet keinesfalls dem Mythos uneingeschränkter Freiheit und weltweiter Demokratisierung entspricht, von dem Howard Rheingold uns Anfang der 1990er Jahre noch etwas vorträumte.

Wie jeder öffentliche Raum im kapitalistischen System, ist auch der virtuelle Raum von Eigentums- und Kapitalinteressen betroffen, sowie er ebenso von Verboten und Ordnungsmassnahmen betroffen ist. Allem zuoberst steht der Kampf um den Schutz von Eigentum und anderen Partikularinteressen gegenüber dem allgemeinen öffentlichen Interesse. Hier stehen also Platzverweise, architektonische Massnahmen zur Verhütung unerwünschten Verhaltens, Gentrifizierung, Überwachungskameras, Securitas, Sicherheitszonen und biometrische Erfassung gegen Hooliganismus, Drogenabhängige und Obdachlose, gegen Hausbesetzungen, unerwünschte Einwanderer, politische Feinde und jegliche Infragestellung der bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse.

Im Cyberspace ist die Situation kaum anders. Auch der virtuelle Raum ist einer galoppierenden Kommerzialisierung und der Verwirklichung von Partikularinteressen ausgesetzt. In beiden Sphären kommt das Gesetz zum Tragen. Es ist heute, an die Stelle einer politischen Diskussion getreten, die der totalen Ökonomisierung der Räson gewichen ist, und in deren Diensten es die erwähnten Interessen reguliert oder aber dereguliert,um dem radikalen Markt freien Lauf zu lassen.

Im besonderen Masse ist hier in den letzten Jahren der Schutz der Urheberrechte zu einem Vorwand für die Ausbreitung des rechtlichen Geltungsbereichs der Unterhaltungsindustrie geworden; man erinnere sich an den Fall Metallica gegen Napster, eigentlich ein Fall der American Recording Industry Association gegen besagtes Peer-to-peer Netzwerk. Die Plattform der Napster-Community wurde zunächst mit Klagen zugedeckt, dann von Bertelsmann aufgekauft und schliesslich geschlossen.

Mit Abmahn-Terror grasen Herden von Winkeladvokaten die grossen rechtsfreien Räume des Internets ab, nach Ihnen kommen die Siedler und zäunen das Land ein. So markiert diese Entwicklung, die stets mit neuen Gesetzen auf dem sogenannten freien Markt ohnehin nur die Interessen der stärksten und somit einflussreichsten Kräfte des Marktes durchsetzt, eines der grossen Paradoxa des Neoliberalismus:

Die behauptete Demokratisierung des Marktes ist hier gleichzeitig Argument für Deregulierung und Regulierung, je nach Interessenlage. In diesem höchst komplexen Durcheinander von Nutzerfreiheit, politischer Steuerung und privatwirtschaftlicher Intervention tritt der Gesetzgeber zum einen als Steigbügelhalter für private Cowboys hervor, die wildes Vieh einfangen und mit ihren Brandzeichen versehen wollen, zum anderen nutzt er die neuen Möglichkeiten des vermeintlich rechtsfreien virtuellen Raums nicht nur als Transporter eines Regimes der Angst. Er nutzt die chaotische Struktur des Cyberspace in einer Weise, die impliziert, das Böse selbst käme aus den Informationsflüssen des Internet direkt durch die Kabel in unsere Wohnzimmer gekrochen. Hier entstehen in der Geschwindigkeit der High-Speed-Connections auch neue Gesetze und andere staatlich gelenkte Massnahmen, die den Kontrollbereich des hegemonialen Komplexes erweitern helfen, sei es zur Bekämpfung der Kinderpornographie, des Terrors oder der Internet-Piraterie. Allzu oft wird der Schrei nach mehr Sicherheit, nach mehr Kontrolle bereits von den Usern antizipiert, noch bevor die politischen Spindoctors sie für ihre populistischen Kampagnen verwertet haben.

Ein interessantes Phänomen ist neben dem sich gegenseitig potenzierenden Verhältnis von erhöhter Sicherheit und erhöhter Angst die zunehmende freiwillige Selbstkontrolle, abzulesen an der bereitwilligen Öffnung des letzten privaten Raumes, nämlich der eigenen Identität. Am Punkt, an dem im Rechtsstaat die staatliche Kontrolle oder die Kontrolle von Konsumenten an Ihre Grenzen stösst, springt der neue gläserne Mensch selbst mit Freiwilligkeit ein. Sowohl consumer-watch als auch die Rasterfahndung profitieren hier von einer Felxibilisierung der informationellen Selbstbestimmung und von arglosem oder fahrlässigem Hinterlassen kompromittierender Spuren.

Die zeitgeistige Enttabuisierung empfindlicher Informationen oder geheimster Gedanken, beispielsweise der sexuellen Präferenz, politischen Einstellungen und Konsumentengewohnheiten auf allgemein zugänglichen Internet-Plattformen kollidieren hier mit Individualisierungs- und Privatisierungsprozessen, die das alte Gouvernement protektionistischer Staatlichkeit auflösen und viele der bisherigen Kontrollmechanismen an die Privatheit überschreiben.

Die scheinbar harmlose Pflege digitaler Poesiealben wie Facebook oder MySpace markieren auf geradezu tragi-komische Weise wie der dirigistische Kontrollstaat im Prozess seiner Selbstauflösung zum einen an Kontrolle verliert und zum anderen seine -in den längst vergangenen Zeiten des Volkszählungsboykotts noch extrem schwierig durchzusetzenden Kontrollgelüste- gerade durch sein eigenes Verschwinden, mit grosser Effizienz den voluntaristischen Massen überträgt.

So findet die schwierige, arbeitsintensive und kostspielige Anhäufung massenhafter Daten Kraft der Plauderlaune und des Exhibitionismus von Usern statt und versorgt alle -vom amerikanischen NSA bis zum Personalchef bei der Deutschen Bahn AG- mit wohlfeilen Daten.

Das World Wide Web Consortium entwickelt derzeit einen Standard, „Semantisches Web" genannt, der solche Daten optimiert und auf Plattformen vereint. Der Bürger liefert durch seinen Gebrauch des Internet Daten aus dem Internet-Banking, von Treue- und Rabattkarten, Handyabrechnungen, Einlogg- Daten und nicht zuletzt durch Angabe weltanschaulicher Einstellungen oder durch ominöse Hobbys oder berufliche Profile, empfindliche Informationen, welche bei allfälliger Erfassung dem Generalverdacht zum Opfer fallen. Dieser Widerspruch stand bereits zu Zeiten Horst Herolds in Konflikt mit dem rechtsstaatlichen Grundprinzip der Unschuldsvermutung, da hier ggf. ohne einen Anfangsverdacht ermittelt wurde und wird.

Es bedarf kaum weiterer Erklärung, was ein solches Kotrollgebaren zum Beispiel für einen muslimischen Studenten der Ingenieurstechnik, für einen schwulen Lehrer oder aber für einen marxistischen Oberförster für Folgen haben könnte.

Gibt’s mich wirklich?
Während die nunmehr archaisch anmutende Rasterfahndung – ursprünglich eine aus polizeilicher Aporie geborene Erfindung aus dem deutschen Herbst- einem viel dichterem und effektiverem Netz privater Überwachungssysteme Platz macht, sucht die Staatsgewalt nach neuen Aufgaben: Bekämpfung von Gottesstaaten, Verkauf von Informationen an die Privatwirtschaft und Aufbau des Präventionsstaats.

Sobald der einstige innere Feind nach seiner Fantômas-Existenz allmählich durch den Spülsog zwischen Celler Loch und Mauerfall im Ausspülklo der Geschichte verschwunden war und die dritte Generation vielleicht wirklich nicht mehr war, als ein Film von Fassbinder, ereilt unsere Gesellschaft die Epoche des Generalverdachts.

Vigilantes durchstreifen Medien und Politik und sichern ihre Macht durch falsche Anschuldigungen der Anderen. Ausländische Arbeitnehmer werden zur Bedrohung nationaler Arbeitsplätze, Immigrantenkinder zum U-Bahn-Schlägern, Moslems zu Terroristen, Gewerkschaftler zu Konjunktur-Bremsern, Sozialhilfe-Empfänger zu Schmarotzern, Nachbarn, Familie, Girlfriends oder Boyfriends zu vertrauensunwürdigen Zielobjekten, die man mit dem Handy lokalisieren muss, vor Talkshow-Tribunale stellen muss oder von denen man gegen Geld oder Treuepunkte auf Facebook-Anwendungen herausfinden kann, was diese über einen denken, sich aber nicht trauen, es einem ins Gesicht zu sagen.

Das Anbieter-Phantom darf hier mittels einer eigens dafür entwickelten Anwendung für Mistrauen und Verlogenheit an einem Handel mit Konfessionen aus dem Unterhöschen auch noch Geld verdienen, beziehungsweise zum Nulltarif indiskrete demoskopische Informationen sammeln. Die Umkehrung dieses Phänomens ist übrigens der Verdacht, talentlose Normalbürger könnten zu "Superstars" werden. Immer gibt es bei der Quizfrage: „Gibt’s mich wirklich?“ auch etwas zu gewinnen.

Vom Platzverweis zur Abschiebung, von der Kundenkarte zur Schleierfahndung, von der Talkshow zur Hausdurchsuchung, vom Unterbindungsgewahrsam zur Friedensmission: die instituierenden Kräfte sind vom disziplinarstaatlichen Monopol befreit und dehnen sich auf das gesamte Leben aus.

Die Revolten von einst sind vergessen. Die Revolutionen von heute deregulieren nicht mehr die bürgerliche Normativität oder bekämpfen direktivistischen Kontrollstaat. Sie sind vielmehr integraler Bestandteil wirtschaftlicher Deregulierung, technologischer Erneuerung und politisch-moralischer Restauration geworden.

Die Ablösung von Protest als Inhalt des Rock’n’Roll zugunsten von Melancholie oder Sportivität in der sogenannten Independent-Musik ist Symptom einer Kommerzialisierung von Gegenkulturen, die scheinbar vergessen haben, warum es sie überhaupt einmal gab. Gefahr für die öffentliche Ordnung kann von ihnen heute nicht einmal mehr symbolisch ausgehen, dafür sorgen die ehemaligen Verkünder des medialen Rock’nRoll Circus, MTV und VIVA, die das einstige Versprechen, das Widerständige von Popkultur im großen Stil zu propagieren, längst gegen pädagogische Disziplinierungsprogramme ausgetauscht haben, denen immer das gleiche Schema zu Grunde liegt.

Als Beispiel sei hier das Sendeformat ‚MTV made’ genannt, in der jugendliche Aussenseiter unter dem Leistungsdruck des kapitalistischen Gesellschaftssystems ihr Leben verändern wollen, oder besser ausgedrückt: ihre Insuffizienz bezüglich der Anforderungen des Systems ausmerzen wollen, um besser gemäss der Logik des Systems funktionieren zu können. Dies zeigt sich in immergleicher Form: indem sie einen vermeintlich unerreichbaren Traum anstreben (z.B. ein übergewichtiges Mädchen will Cheerleaderin sein) und bis zur Selbstverleugnung an dessen Verwirklichung arbeiten. Der Weg dahin ist gepflastert von Training, Pünktlichkeit, Selbstdisziplinierung und dem ewig wiederholten Mantra, dass jeder seine Träume verwirklichen kann, wenn er nur hart genug daran arbeitet.


Selbst auf den ersten Blick anarchistisch gefärbte Formate, wie das selbstzerstörerische „Jack Ass“, indem die Protagonisten sich mit Absicht in möglichst schmerzvolle Situationen begeben, sind in der Endlosschleife nichts anderes als Voyeurismus und Placebo-Spektakel.

Egal, welche Bedürfnisse hier erzeugt werden, sei es der eben erwähnte Voyeurismus oder die Transformation von Überwachung in Exhibitonismus, wie beim sogenannten Unterschichten-Fernsehen (Talkshows, Big Brother, DSDS), eines fällt auf: Die Auflösung der Schamgrenzen. Es scheint, als habe der gelockerte Gürtel der Deregulierung die gesellschaftliche Hose endgültig zum Fallen gebracht und als ob die auf halb Acht hängenden Hosen der B-Boys nur eine Vorgeschmacklosigkeit waren, die eine Gefängnisrepressalie zur coolen und inhaltslosen Mode erhebt.(in amerikanischen Gefängnissen sind Gürtel verboten um Selbstmord vorzubeugen und die Gefängnishosen sind zu gross, damit der Gefangene nicht laufen, bzw. fliehen kann)

Wir können allerdings kaum davon ausgehen, dass die eingangs erwähnte freiwillige Herausgabe von Informationen lediglich auf eine semantische Übermacht des Informationsapparates oder auf eine hoffnungslose Ignoranz der User, der Bürger, zurückzuführen sei.

Die Frage, warum wir so gerne Auskunft über uns geben hat auch mit einem Misstrauen gegenüber den Medien selbst zu tun. Was sich hier zunächst paradox anhört, erklärt sich folgendermassen: Viele in unserem Kulturkreis haben ein durchaus distanziertes Verhältnis zu den Medien und relativieren vor diesem aufgeklärten Hintergrund, den tatsächlichen Wirkungsgehalt medialer Information. Die Verifizierbarkeit und die Relevanz der zugänglich gemachten Informationen werden hier, teilweise berechtigt, angezweifelt.

Nichts desto trotz macht sich in dieser Aufgeklärtheit eine Mentalität breit, die nicht mehr kategorisch den Eingriff in die Privatsphäre ablehnt, sondern den Nutzen einer solchen Entscheidung in die Waagschale wirft. Die Verhandlung der Unantastbarkeit des Privaten wird einer gewissen Ökonomisierung unterworfen. So wird durchaus manchmal in vollem Bewusstsein einer Schnüffelei stattgegeben, wenn es sich denn lohnt. Stichwort: Treuepunkte.

Die kategorische Ablehnung solcher Kontrolle war in den 80er Jahren in aufgeklärten Schichten gegen einen übermächtigen Staat gerichtet. Einmischung von Privatpersonen in anderer Leute Privatangelegenheit war etwas, was man eher in Form von Nachbarschafts- oder Familienstreit kannte. Mit der im Zuge der neoliberalen Reformen der 90er und 2000er Jahre vollzogenen Deregulierung staatlicher Kontrolle, bzw. mit der Weiterdelegierung von Teilen dieses Bereichs an die Privatwirtschaft, herrschte bei den angesprochenen Bevölkerungsgruppen oft eine positive Einstellung gegenüber der Privatisierung an sich vor, weil sie sich gegen die -aus Gewohnheit- verhasste Staatlichkeit wendete. Dieses erklärt übrigens auch die Transformation der Politik der Grünen Partei in eine neoliberale Agenda-Politik ab dem Kabinett Schröder (Beispiel Oswald Metzger, heute CDU).

Die Einsicht, dass es eine für die Demokratie und für den Rechtsstaat gefährliche private Einflussnahme gibt, welche eine Privatisierung der Politik anstrebt, ist ja eher neu. Ich denke hier zum Besipiel an die Rolle, die marktradikale Think-Tanks wie die Bertelsmann-Stiftung bei der Gestaltung der politischen Realität spielen. Diese baute Abhängigkeits- und Instrumentalisierungsverhältnisse zwischen der Stiftung und Politikern sowie den Medien auf, die sich als enorm effektiv erwiesen.

Besipiele für die Ergebnisse dieser Einflussnahme, sind die Einführung von HartIV, Einführung von Studiengebühren, die als Bolgna-Prozess bekannte anti-akademische Anpassung der Europäischen Hochschulen, sowie die Vorbereitungen zu einer Ökonomisierung des Schulwesens durch sogenanntes Controlling, zu denen auch die berühmt-berüchtigten PISA Studien gehören.

Ein weiteres prominentes Beispiel für ausser-gouvernementale Kontrolle ist die Initiative Neue Soziale Marktwirstschaft, ebenfalls Mitglied des Stockholm Networks, des Dachverbands marktradikaler Think-Tanks. Diese Organisation beeinflusst weite Teile des bürgerlichen politischen Spektrums, dessen Parteien es sogar direkt mit politischen Slogans versorgt, die quer durch das gesamte politische Spektrum, abgesehen von der Linken, wortwörtlich weitergegeben werden.

Noch dramatischer ist hier allerdings der Versuch, Medien, insbesondere das Fernsehen durch sogenannte "Medienpartnerschaften" zu kontrollieren. So fungiert die Organisation auch als Discount-Nachrichtenagentur, die finanziell unter Druck stehende oder unter Druck gesetzte Redaktionen mit propagandistischen und infiltratorischen Nachrichten versorgt, die ein positives Bild neoliberaler Reformen vermitteln sollen. Die INSM versuchte auch durch Anrufung des Presserates und durch Diffamierungskampagnen auf kritische Medien, wie zum Beispiel die Wochenzeitung "Freitag", Druck auszuüben.
Der krasseste bekannt gewordene Fall von Medienkontrolle fand wohl 2002 in der Jugendfernsehserie Marienhof statt: Die INSM zahlte 58.670 Euro an die ARD, um Dialoge platzieren zu können, welche "die eigenen politischen Ansichten zu Themen wie Wirtschaft, schlanker Staat, Steuern verbreiten sollten".


Angesichts derartiger Auswüchse, denke ich, ist es an der Zeit, an einem Bewusstwerdungsprozess zu arbeiten, der hilft, Kontrolle nicht mehr nur als eine vom Staat ausgehende Oppression zu begreifen, sondern überhaupt die Macht nunmehr als ein Ding zu verstehen, das im Begriff ist, privatisiert zu werden und sich so seiner Legitimität zu entziehen. Dieses bedeutet, dass wir von alten Bildern des Regimes Abschied nehmen müssen, die leider nach wie vor von Teilen der politischen Linke als ausschliessliches Feindbild wahrgenommen werden, was die politische Linke in den letzten Jahren auch sehr geschwächt hat. Und wir müssen uns auch eingestehen, dass einige der neuen gewonnenen Freiheiten, zum Beispiel Flexibilisierung, Enthierarchisierung und Deregulation auf dem Arbeitsmarkt die Kehrseite dieser vermeintlichen Selbstbestimmung hervorbrachten: die Auflösung der Privatsphäre, die Erhöhung der Kontrolle und des allgemeinen Drucks.


Wir befinden uns in einer Zeit, in der relative Freiheiten als Bonus einer einschneidenden Lenkung durch einen hegemonialen Komplex aus Wirtschaft und Staat gegenüberstehen.

Die Mittel ist hier sind erstens ein von der Obrigkeit ausgehendes Misstrauen, das den Bürger, den Arbeitnehmer, den Steuerzahler, den Arbeitslosen, den Ausländer, den Jugendlichen etc. vorab inkriminiert und so einem ständigem Druck aussetzt. Dieser Druck lässt sich sukzessive von einer instrumentalisierten Politk oder vom Markt direkt nutzen.


Zweitens werden hier Mittel wie Gentrifizierung, Kommerzialisierung, Kriminalisierung und Marginalisierung genutzt, um nicht gelenkte Communities unter Kontrolle zu kriegen. Das Ergebnis ist hier die Vereinzelung des Menschen, welche zwangsläufig zu seiner psychischen Prekarisierung führen muss. Dieser gibt sich dann, gepaart mit dem nunmehr Eigenverantwortung genannten Abschaffung sozialer Ansprüche, in einem Gefühl von Ohnmacht den Lenkungen der Obrigkeit hin.

Darüber hinaus wird das Misstrauen zu einem gesellschaftlichen Prinzip, was erneute Bildung von Communities erschwert: Niemand traut niemandem, der öffentliche Raum und die sozialen Beziehungen werden nur noch paranoid wahrgenommen. Dieser Faktor wird durch die Kontrolle der Medien, welche weitere Ängste schüren, noch verstärkt. Der berufstätige Mensch ist einer gesteigerten Kompetetivität in wandlosen Grossraumbüros mit verglasten Fassaden ausgesetzt. In Betrieben mit verflachten Hierarchien herrscht Intimitätsterror, der sich Transparenz nennt. Wer nicht chronisch berufstätig ist, untersteht der Kontrolle des Sozialamtes, die mittlerweile Patrouillen in die Privatwohnungen von Hartz IV-Empfängern schickt. Und als wenn das noch nicht genügen würde, infiltrieren die Medien mit dem spezifischen Unterschichtenfernsehen noch die Köpfe des abgehängten Prekariats mit den Ideen und Mythen der Leistungsgesellschaft, damit sich diese Menschen, bedrängt mit der protestantischen Ethik einer Arbeitsgesellschaft, die sich ihre Produktionsmittel in die dritte Welt outsourced, sich selber disziplinierend, die Schuld für ihre Misere nur und ausschliesslich bei sich selber suchen.

Das direkte Resultat aus den beiden zuletzt genannten Punkten ist einerseits die Otakuisierung einer gesamten Generation, deren borderlinige Exponenten die Unmöglichkeit zur Revolte nur noch als Amoklauf auszudrücken vermögen. Andererseits steht hier ein Rückzug aus gesamtgesellschaftlichen

Prozessen, aus den Ebenen der politischen Diskussion schlechthin, die von einigen Politikern und Demografen als "Politikverdrossenheit" lamentiert wird, in Wirklichkeit aber nur Teil eines Masterplans zur Auflösung der politischen Sphäre schlechthin.


Als ich diesen letzten Abschnitt schrieb, dachte ich bei dem Wort Bewusstwerdungsprozess unweigerlich an Rudi Dutschke. Er konnte damals noch nicht ahnen, in welcher Form die relativen Freiheiten, die Ent-tabuisierungen und die Entstaatlichung, die uns die 68er Bewegung ohne wenn und aber langfristig beschert haben, in welcher Form diese Freiheiten also zu einer Falle werden konnten. Wenn Dir ein "Superstar" im Fernsehen sagt, "Ich habe versucht, alles zu geben! Aber ich muss noch härter an mir arbeiten!" dann merkst Du sofort wie die Selbstbestimmung zur totalen Unterdrückung wird. Bewusstwerdungsprozess, das bedeutet für mich heute auch, bei der Verhandlung persönlicher Freiheiten auch Entsagung üben zu können, vor allem, wenn man sich klar darüber wird, dass die Bedürfnisse, denen man erliegt, natürlich künstlich sind und eine kleine Freiheit hier die grosse Versklavung dort bedeutet und die Schrittfolgen, die ich diesen, meinen Freiräumen performe vorbestimmt sind. Vielleicht ist das, was ich Freiheit nenne tatsächlich Selbstkontrolle. In diesem Sinne schliesse ich mit einem Zitat der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer: "Protect me from what I want!".


Der Innere Feind wird indes nicht mehr gesucht. Die Gefahr wird als von Außen kommend behauptet und wird eingeschleust. Als illegale Einwanderer, als ominöse Schläfer, als immaterielle Imame. Je abstrakter, je phantomhafter der Feind, umso größer die Angst und umso größer seine disziplinierende Wirkung. Vergessen ist fast schon das Phänomen der Anthrax-Briefe, ein biologischer Kampfstoff, dem 2001 fünf Menschen zum Opfer fielen und maßgeblich dazu beitrug ein Bedrohungspotential zu entwickeln, dass (in Kombination mit dem 11.September) in der Verabschiedung des Patriot Act in den USA mündete. Die Umstände dieser Anschläge wurden freilich nicht eindeutig geklärt, außer der Tatsache, dass es sich bei dem Urheber nicht um arabische Terroristen handelte, sondern wahrscheinlich um einen Angestellten eines Biowaffenlabors der Vereinigten Staaten. Trotzdem hielt dieser Umstand niemand davon ab, die potentielle Bedrohung eines imaginierten Bioterrorismus auf eine nationalstaatliche Bezugsebene zu hieven namens Irak...
Aber auch in der Bundesrepublik wurde im Zuge der Terrorbekämpfung beispielsweise das Datenmonstrum der schon erwähnten Rasterfahndung reaktiviert, um potentiellen Tätern auf die Spur zu kommen, indem z.B. Hochschulen nach den Datensätzen der immatrikulierten muslimischen Studierenden befragt wurden, die technikrelevante Studiengänge (z.B. Maschinenbau, Physik) studieren. Diese Praxis wurde nach der Klage eines marokkanischen Studenten 2006 zwar weitgehend eingestellt, ironischerweise kommen mittlerweile aber die selben Ermittlungsmethoden in der Bundesagentur für Arbeit zum Einsatz, wenn sogenannten „Sozialschmarotzern“ der Leistungsbezug gekürzt oder gestrichen werden soll. Das es offensichtlich nicht nur der Apparat ist, der bedrohliche Ausmaße annimmt, sondern dass es auch ein Personal gibt, das bereitwillig den Vollstrecker mimt zeigt auch ein aktueller Fall aus Göttingen, wo einem Sozialhilfeempfänger die Bezüge gekürzt wurden, nachdem ein Mitarbeiter der Behörde ihn beim Betteln gesehen hatte. Der Beamte ließ es sich nicht nehmen einen Blick in die Dose zu werfen und den ‚Tagesumsatz’ auf ein monatliches Gehalt (vermutlich inkl. Feiertage...) hochzurechnen, um anschließend die Bezüge des Mannes um über 100 EUR zu kürzen. Dieser vermeintliche Einzelfall beleuchtet eine Einsatzbereitschaft, die über das übliche Befehlsempfänger-Bewußtsein hinausgeht: Der Beamte vollzog diese Überwachungsmaßnahme unaufgefordert in seiner Mittagspause.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen