Montag, 23. Juni 2014

Ganz kleiner Versuch über eine Westdeutsche Ästhetik

Aus einem Vortrag bei Gitte Bohr - in Zusammenarbeit mit Eva May

Mit dem Aufbau Ost wurden nicht nur die berüchtigten beleuchteten Wiesen gefördert, also Strukturmaßnahmen mit kurzsichtigem Blick auf die demografische Entwicklung. Mit dem Aufbau Ost wurden ebenso nicht einfach die maroden Innenstädte Ostdeutschlands vor dem Verfall gerettet. Es schlich sich gleichfalls ein Bauprogramm ein, dass sich der Auslöschung des ästhetischen Erbes der DDR verschrieben hatte. Davon zeugt nicht nur der Abriss des Palastes der Republik, die Verhunzung eines einzigartigen und anspruchsvollen architektonischen Kontinuums an Alexanderplatz oder die rigorose Schleifung von Siedlungen des sozialistischen Wohnungsbaus. Ganz unmerklich zeigt sich in Bezirken wie Pankow, dass intakte Stadtmöbel, Pflaster, Beleuchtungen systematisch durch westdeutsche Industriestandards ersetzt werden. Während die Kommunen für diese versteckte Umgestaltung des öffentlichen Raums einen Haufen Geld ausgeben, geschieht auf der Ebene des kulturellen Erbes etwas ganz und gar bedenkliches: Die historische Rekonstruktion. Sie ist in vielerlei Hinsicht umstritten. Denn wo Frauenkirche oder Stadtschloss eine historische Blutgrätsche zwischen Preußen und der Ära Kohl hinlegen, sind neben allen Vorwürfen in puncto Restaurationsästhetik auch durchaus qualitative Mängel der historischen Rekonstruktionen auszumachen.


Mit vergleichsweise geringem finanziellen und vor allem zeitlichen Aufwand wird versucht, architektonische Meisterschaft mit billigem Material und so wenig Arbeitsstunden als möglich hinzulegen. Das Ergebnis sind kostspielige, aber banale und schlampig ausgeführte Surrogate, die mehr dazu angedacht sind, den Geist einer idealisierten und längst nicht mehr existierenden Heimat anzurufen und ganz nebenbei die politische Durchsetzungskraft der regierenden Bauträger zu repräsentieren, einer Handlungsgewalt, die Fakten schafft.


Doch welch restaurativen Geist noch die im Wiederaufbau Westdeutschlands dominierende Nachkriegsmoderne glücklicherweise vermissen ließ, zeigte sich bereits etwa ab den 1980er Jahren in westlichen Metropolen. Die historische Rekonstruktion Hannovers oder Frankfurts sind ein Paradebeispiel des schlechten Geschmacks und ahistorischer Idealisierung. Gewiß waren sie Reaktion auf eine brutalisierte Version der Moderne, welche aufgrund ihrer groben Formsprache einerseits, andererseits aufgrund der schlechten Qualität und des massiven Einsatzes von Beton auf Otto Normalgeschmack bedrohlich wirkte. Wo der Historie denn keine war, musste man sie denn erfinden. Kein alleinig westdeutsches Phänomen. Das Ostberliner Nikolaiviertel ist mit seinen Rekonstruktionen in Plattenbauweise eine ebensolche Geschmacklosigkeit. 

Jedoch gab es vor dieser konservativen Zäsur in den 1980er Jahren einen modernen Geist in der Architektur beider deutscher Staaten, der heute von rückwärtsgewandten Tastemakers ebenso abgelehnt wird. Neben der verhassten DDR-Ästhetik fällt ihr mitunter auch die West-Moderne zum Opfer. Der selbstbezeichnet „gerechte“ Zorn des Gunnar Schupelius traf in der BZ im letzten Sommer die Pläne, Karl-Marx Allee und Hansa Viertel in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufzunehmen. Das Aufbegehren des Berufsdemagogen Schupelius gegen den Schutz des Stalinistischen Prunkbaus im Zuckerbäckerstil verwundert wenig.


Interessant aber, wie der Schreiber gegen die Bauten der Internationalen Bauausstellung von 1957 im Berliner Hansa-Viertel wettert. Die Bauten des internationalen Who is Who der Nachkriegsmoderne und die Kunstwerke scheinen ihm nicht schützenswert: Die Häuser von Alvar Aalto, Le Corbusier, Walter Gropius, Arne Jacobsen, Oskar Niemeyer, Max Taut, um nur einige zu nennen, sind für den Experten von der BZ lediglich „eine Ansammlung von mehr oder weniger durchschnittlichen Hochhäusern“. Er findet, das Charlottenburger Schloss sei da ein würdigerer Kandidat. Doch die Favorisierung dieses nicht herausragenden Schlossbaus, der immerhin dreimal den Baumeister wechseln musste, zeugt von einem künstlerischen Unverständnis, das Schupelius -die Speerspitze des guten Geschmacks- durchaus in die Moderne zu spiegeln weiß. Dabei war es gerade die Architektur der Nachkriegsmoderne, die dem restaurativen Adenauer Staat vielerorts sich widersetzte. Für den Wiederaufbau Deutschlands und eine zaghafte Wiederherstellung internationalen Ansehens war nämlich die Nachkriegsmoderne nicht unerheblich. Wenn es eine Frage nach einer westdeutschen Ästhetik gibt, so kann man sie vielleicht beantworten als konfliktuelle Abbildung eines restaurativen Geistes in der Auseinandersetzung mit den Künsten, die sich zunächst erfolgreich gegen Naziästhetik und Neoklassik abzusetzten suchten, wennauch ihre Formsprache (gerade in der Architektur) nicht selten für die Repräsentation eines erstarkenden Kapitalismus und als Anti-Kommunistisches Bollwerk herhalten musste.

 
Links: Niemeyerhaus im Hansaviertel, Rechts: B.Z. Kampagne verrät viel über die Ästhtik der West-Berliner Konservativen

Die bildende Kunst versuchte sich mit dem Informel der Vereinahmung durch Staatsästhetiken zu entziehen, was ihr im Gegensatz zum (durch die CIA geförderten) Abstrakten Impressionismus in den USA auch streckenweise gelang. Die Abstrakt-Konkreten bauten das Neue und straften mit Aktualität das Vergangene ab. Der kapitalistische Realismus der Gruppe um Polke und Richter konterkarierte hingegen mit einer vermeintlich westdeutschen Version des Sozialistischen Realismus die neu erstehende Konsumkultur. Ihre Gegenwartskritik zeigte, dass bildnerische Opposition auch gegenständlich formulierbar war, womit sie, als veritable deutsche Form der Pop-Art, dem Informel widersprachen. Fluxus zeigte, wie in dieser Auseinandersetzung die Bilder der unangenehmen Vergangenheit oder einer Gegenwart, unangenehm und ohne Angst vor der Repräsentation gezeigt werden können: zerschnitten, verbrannt, verschimmelt.


Der Film des jungen Deutschland wurde dominiert von einer bereits in Kriegsunterhaltung und Weltflucht geübten UfA und Neuverfilmungen von Stoffen, die bereits von Goebbels genehmigt wurden. Heinz Erhard, Peter Alexander & Co. Die drei von der Tankstellen mit Bruchpilot Heinz Rühmann, Nachts im grünen Kakadu, das weiße Rössl und Charly's Tante, allerhand Verwechslungskomödien und Revuefilme standen für seichte Unterhaltung und anstrengenden bis pathologischen Humor. Interessanter hier das Genre der Heimatfilme: In ihrer stets prächtig fotografierten Ländlichkeit fingen sie ein Defizit an heiler Welt auf und waren Brot der frühen Jahre. Wichtiger aber noch, wie sie mit ihrer klaren Unterteilung von „gut“ und „böse“, um die Wiederherstellung moralischer Standards bemüht waren. Man kann darüber streiten, ob die durch den Krieg zerrüttete Gesellschaft jetzt mehr Bedarf an Werten hatte oder übermäßig an dem erlebten Autoritätsverlust litt. Jeder mag selbst für sich die Frage entscheiden, ob der Förster vom Silberwald an die Stelle Adolf Hitlers getreten war und der Wilderer aus selbigem deutschem Wald an die Stelle des „ewigen Juden“.


Ein viel versprechender Anfang des Nachkriegskinos war der Trümmerfilm. Doch der Bedarf an realistischen Szenarios war gering. Roberto Rossellini drehte mit „Germania anno zero“ 1947 einen der ersten Spielfilme im zerstörten Berlin. Er wurde in Deutschland kaum gezeigt und eine typische Reaktion einer ablehnenden Filkritik ist Hans Habe's Kommentar aus der Süddeutschen von 1949: „Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen vom Grab einer Nation, er erbricht sich in den Sarg.“
Als erster Film Nachkriegsdeutschlands gilt Wolfgang Staudte's „Die Mörder sind unter uns“ von 1946. Dieser bekam aber überwiegend gute Kritiken, mitunter auch weil er die schwer benötigte Rekonstitution ethischer Standards zeigte und weil er schon damals den Mythos des „guten Deutschen“ im bösen System bemühte. Manchmal ist der Verriß doch mehr Ritterschlag.


In seinem Titel deutet sich jedoch an, was später zum zentralen Motiv der Studentenbewegung werden würde, nämlich, dass der neue Staat von den alten Köpfen regiert und rekonstituiert wurde. Politiker, Richter, Polizisten: die Mörder waren unter uns! Die Benennung der weiten Durchsetzung der Westdeutschen Gesellschaft mit alten Nazis durch die protestierenden Studenten steht aber im Unterschied zum noch zaghaft kritischen Bild minoritärer Kriegsverbrecher, die sich der Verantwortung entzögen. 

Umso mehr, will man sich einer Westdeutschen Ästhetik nähern, muss man das Zusammenspiel von kritischer und offizieller Kultur betrachten. Und man kann wohl sagen, dass die Meinungsbildung und das ästhetische Gesamtbild der BRD aus dem Miteinander von Repräsentationsästhetik und der Künstlerkritik bestand, in einer Zeit, da der öffentliche Intellektuelle von Böll bis Beuys noch existierte.

Neu war die sich im Fahrwasser des Marschall-Plans entwickelnde Konsum- und Verdrängungskultur. Wolfgang Neuss besingt sie in „Hier kommt das Wirtschaftswunder“. 


Die Kinder des neuerstehenden westdeutschen Spiesser-Staats benehmen sich sonderbar. Was sich nicht einordnet wird kriminalisert. Eine teilweise noch vom Krieg verrohte Nachkriegsjugend durfte nicht auf Verständnis hoffen. Sie wurde als „Halbstark“ kriminalisiert und in Heime gesteckt. Was dort aber unter der Oberfläche brodelte, war nicht einfach Ausdruck unerklärlicher Gewaltorientiertheit undankbarer James Dean-Verschnitte. Was hier köchelte, lässt unverarbeitete Kriegstraumata und soziale Probleme der Nachkriegszeit erahnen. Von ihnen ist im kollektiven Gedächtnis eher wenig hängen geblieben. Ebenso wie von den sozialen Bewegungen der 1950er Jahre. Die Jugend indes, begehrte ab den 1960er immer stärker auch offensiv und verbal gegen die Wirtschaftswundergesellschaft der Väter auf. Wie stark noch soziale Unangepasstheit mit dem Stigma des nazistischen Sozialhasses gegen Randständige belegt war und mit welcher Empörung der bundesrepublikanische Spiessbürger auf solche Jugendliche reagierte, zeigt sich in geradezu beschämende Weise in Peter Fleischmann's Dokumentarfilm „Herbst der Gammler“.


Mein Film: „Republik der Gespenster“ zeigt Ausschnitte aus Rossellini's „Deutschland Stunde Null“ und Wofgang Staudte's Verfilmung von Heinrich Mann's „Untertan“. Die Untertitel liefern Auszüge aus einem Brief Rudi Dutschke's an seinen Attentäter Josef Bachmann, einen autoritären Charakter, der sich kurze Zeit später im Gefängnis umbrachte, ganz wie der Protagonist in Rossellini's Film. Der Junge verliert den Führer, "verliert" den Verführer -ein pädophiler Lehrer und Alt-Nazi, der sich dem Jungen als väterlicher Freund anbietet- und tötet seinen schwachen Vater und schließlich in der drastischen und bis dahin noch nie gezeigten Szene eines Kinderselbstmords- sich selbst.



Das Deutschland des Wirtschaftswunders gestaltet sich nach amerikanischem Vorbild aus, übernimmt, wo möglich, bereitwillig die Konsumkultur. Dass es eine Auseinandersetzung in Form von Deutscher Pop-Art gab, habe ich bereits angedeutet. Wir sehen hier noch ein paar sehr kurze Filme von Peter Roehr, indem das Wissen um den Benjaminschen Aufsatzes von technischen Reproduzierbarkeit des Bildes enthalten ist. Dieser Aufsatz erschien übrigens erst in den 1060er Jahren in Buchform auf Deutsch. Der früh verstorbene Foto- und Filmkünstler Peter Roehr steht mit seinen radikalen Filmloops an der Schnittstelle zwischen Pop-Art und Minimal. Er formuliert mit der Kraft der Wiederholung einen subtile Kritik an der Konsumkultur, bevor dafür die diskursiven Standards der Situationnisten verfügbar waren und bevor sich eine Konsumkritik sprachlich in Deutschland verfestigte. Gleichzeitig nimmt er eine Pionier-Stellung der Video-Kunst der 1970er ein. Klaus vom Bruch; Marcel Odenbach und andere stehen in seiner Nachfolge.




Die Siebziger Jahre brachten mit dem Neuen Deutschen Film eine Auseinandersetzung mit dem Staat, seiner Gesellschaft und seiner Ästhetik, die bis heute nicht wieder erreicht wurde. Wie kein anderes Medium nahm der Film Einfluß auf die politischen Diskurse und die öfentliche Meinung. Stand das 1961 verfasste Oberhausener Manifest noch in verzweifelter Opposition zur Realität, sollte es dem Autorenfilm der Siebziger gelingen, wesentliche gesellschaftliche Debatten auszulösen oder mitzugestalten. Krieg und Restauration, Holocaust und Vietnam, Jugend-, Frauen- und Schwulenrechte, ja sogar Umweltschutz waren die Themen des jungen Films. Straub, Schlöndorff, Verhoeven, Petersen, von Trotha, Kluge, von Praunheim und natürlich Fassbinder brachten die Thematiken auf die Leinwände, die Fernseher und in die Feuilletons und in die Talk-Shows. Journalisten, Politiker und Künstler unterhielten sich direkt oder indirekt. Doch diese Zeit des schon geglaubten Aufbruchs sollte bald enden. Die Transformation Deutschlands ab der Ära Kohl zog auch ein Ende des Dialogs zwischen Kultur und Politik mit sich. Die bleierne Zeit der Restauration seiner Amtszeit leitete das Ende sozialer, ökologischer, ökonomischer sowie politischer Visionen ein, vorbereitet durch Altkanzler Schmidt, der Menschen mit Visionen am liebsten zum Arzt schicken wollte, und stand für die Anpassung an einen durch die Kritik von 1968 gestärkt hervorgegangenen Kapitalismus. Die Ausweitung der Kampfzone, meint den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, und die Psychologisierung der Arbeitskultur zeigt sich in Ausschnitten aus Harun Farocki's Film „Leben: Deutschland“, in dem es um die Optimierung der Performance und die Bewältigung psychologischer Anomien geht.



Links: The Readymade Demonstration, Reinigungsgesellschaft, Columbus, Ohio 2009


Mit dem Fall der Mauer verschwand der Legitimationszwang gegenüber den sozialistischen Staaten. Westdeutschland musste sich nicht mehr rechtfertigen oder als das eigentlich sozialere Deutschland darstellen. Wo von nun an die Kräfte des freien Marktes sich frei entfalten durften, stellte der Westen mit seinem Kulturimperialismus gegenüber der ehemaligen DDR, die Uhren zurück auf preussische Zeit mit seinen Schinkelbauten und seinen vermeintlichen Tugenden. Die nunmehr konkurrenzlose kulturelle Hoheit des Westens hat Ihre Partikularität, die aus dem Konflikt zwischen Ost und West und zwischen offizieller und dissidentischer Kultur entstanden war, für immer eingebüsst. Das Resultat ist ein kulturelles Diktat, welches das Eigene nicht mehr schafft, und daher die Geschichte bedienen muss um die kulturelle Macht, ganz im Dienste des Kapitals, zu verbriefen. Der Antikommunismus wird längst nicht mehr durch Beschwörungen eines demokratischen Geistes aufgefangen. Die deregulierte Demokratie zelebriert den Untergang der eigenen Werte und frönt im post-politischen Raum der Neoklassik. Eine Renaissance von Rechts, jenseits des rechtsextremen Terrors. Ein neuer Patriotismus als Staatsraison und Teil einer konservativen Konsenskultur wird symptomatisch für dieses neue Deutschland, das in der Verleugnung von Ost und West versucht, sich als führende Macht in Europa aufzustellen. Im „Schland!“Fieber dienen Sport und Massenspektakel zur Unterfütterung dieses neuen patriotischen Taumels. Sara Lehn's Videoarbeit "Schwarz, Rot, Gelb" legt Zeugnis davon ab: