Sonntag, 19. Januar 2014

Netzkultur, Berliner Festspiele

Der Hauch des kalten Krieges

von Diego Castro

„Die Stumme Masse“ - eine Veranstaltung zur Netzkultur in den Berliner Festspielen  Internet kaputt ! Wie ein geplatzter Kindertraum wirkte Sascha Lobos Lamento über die verlorene Unschuld des Netzes. Unvermeidlicher Auftakt der Veranstaltung der Berliner Festspiele. In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung hatte man geladen, mit Experten und Künstlern über Netzkultur in Zeiten von Datenskandalen zu diskutieren. Wie immer, wenn es um Entzauberung der Welt geht, wird die Kunst angerufen. Doch Antworten auf das kaputte Internet erwartete man vergebens, wo sich Kunst mit Kultur verwechselte und Kunst zur Technik schwieg. So bleibt Kunst im kaputten Netz wie Graffiti in Kabul, Kampf gegen Windmühlen.

Der geladene höllandische Medientheoretiker Geert Lovink, attestierte Lobo scherzhaft typisch deutschen Negativismus. Gleich Oswald Spengler, beschwöre Lobo den Untergang des Abendlandes. « Zu einfach » fand Lovink, was der Internet-Irokese unbescheiden als « Vierte Kränkung der Menschheit » bezeichnete. Angesichts der späten Erkenntnis, das Internet sei Ort der Kontrolle, nicht der Freiheit, verklärte Lobo seine eigene Naivität zur Weltgeschichte. Ist das Internet datenverschlingender Moloch der Kontrollgesellschaft? Das Gefühl der Machtlosigkeit könne Lovink gut verstehen. Die Vermessenheit aber, mit welcher der deutsche Internet-Guru die Menschheit aufteilt in jene, die wissen wie das Internet ihr Leben verändert habe und jene, die in Dunkelheit lebten, wurde von der NSA abgestraft. Es seien, so Wikileaks-Mann Joseph Farell, weniger spionierte Inhalte als die gesammelte Meta-Daten das Problem. Selbst im Bewusstsein über die Kontrolle scheint oft unklar, wie Freiheit verletzt wird. Mit Snowden sei die « Konsens-Blase » der Internet-Community endlich geplatzt: Mit der belgischen Philosophin Chantal Mouffe, knüpft Lovink an die Kritik einer universellen, rationalen Einhelligkeit als Gefahr für die Demokratie an. Konflikte auszutragen, sei der Community neu. Wo der Glauben an paritizipative Webdemokratie schwindet, weitet sich die Kampfzone.

Ähnlichen Zweifel hegt Architekt Markus Miessen mit seiner Kritik der Partizipation. Auseinandersetzungen verschöben sich in flüchtige Oberflächen. Diskurse würden von Amateuren illustriert. Basisdemokratie werde simulativ. Miessen verortet hier kaum mehr als eine Fassade des Mitmachens. Als wolle er dies unterstreichen, war er zur geplanten Skype-Konferenz offline. Abwesenheit trotz Anwesenheit. 

Ein implizites philosophisches Problem des Netzes. Selten sind die Auswirkungen des Virtuellen auf das Reale so unmittelbar wie der arabische Frühling. In der virtuellen Welt wird dem Gefühl erfolgreicher Teilhabe allzu leicht Ausdruck verliehen. Per Mausklick dabei sein. Aber wobei ? Wo sind wir, wenn wir im Netz sind? Die viel beschworene Relationalität scheitert am Raumcharakter des Web. Ein Nicht-Ort, ahistorisch, ohne Identität, ohne wirkliche Begegnung. Die Spuren, die wir im Netz hinterlassen, die Freundschaften, die wir in sozialen Netzwerken eingehen – doch nur falsches Leben im Richtigen ? Die Kränkung mag in der Entzauberung des Netzes liegen. Selbst Zweifler mussten einsehen, dass der Big Brother real im Netz spukt. Die Illusion einer besseren Globalisierung im Netz hat Risse erhalten. Mit der Entrüstung über die NSA entzündet sich nun Kritik an der zentralistischen Struktur des Netzes. Auch Lovink sieht dringenden Bedarf, zu fragmentieren. Ich frage ihn, ob die Dezentralisierung des Netzes nicht das post-demokratische Problem birgt, dass Kritik schwer adressierbar werde. Dies eingeräumt, bleibt er optimistisch. Lobo setzte sich unlängst für die Stärkung der europäischen Geheimdienste ein, als Antwort auf die Kontrollhoheit der USA. Ich frage, ob das die Vorhut eines digitalen kalten Krieges sein könnte. Das hält Lovink für übertrieben. Das neuerliche Interesse von Institutionen und Regierungen am Thema weise aber darauf hin, dass Claims abgesteckt würden. Allen Beteuerungen zum Trotz, machte sich am Infostand der Bundeszentrale für politische Bildung irgendwie der Hauch des kalten Kriegs bemerkbar.

Dienstag, 7. Januar 2014

Scham, Peinlichkeit und Kunst

Ungezwungenheit in den Umgangsformen, in der Garderobe, Gelassenheit im Benehmen. Aufmerksam sehend, die Sinne geschärft, trotzdem aber ausgelassen, in sich selber ruhend, gewähren lassend, ohne sich selbst verstellen zu müssen und vor allem den elementaren Unterschied zwischen dem Selbst und dem Kunstwerk vorbehaltlos hinnehmend. So stelle ich mir das Verhältnis das Verhältnis von Mensch und Kunst vor. Dem Kunstwerk erlaubt man, sich Dinge unumwoben ins Gesicht sagen zu lassen. Auch umgedreht sollte die Kunst einer Befragung nicht entweichen. Nun kann das Gemälde sich dem Betrachter schlecht entziehen. Es öffnet sich per se dem geduldigen Besucher, den es in all seiner Höflichkeit erwartet, selbst wenn es ihm unangenehme Wahrheiten unterbreiten muß.


Der Besucher seinerseits, kann diese Höflichkeit erwidern, indem er dem Kunstwerk alle Aufmerksamkeit schenkt. Tritt man ins Museum, so zeigt sich der Kunstbeflissene unbekümmert. Er kennt die Regeln, er weiß sich zu benehmen. Die Statistiken beweisen1 : Die meisten Museumsbesucher gehören gehobenen Schichten an, ebenso wie die meisten Kustoden und Kunsthistoriker. Die Benimmregeln in einem Museum ähneln dem bildungsbürgerlichen Habitus. Die wenigen Besucher ohne entsprechende Erziehung oder Erfahrung tappen unsicher von einem Fettnäpfchen ins Nächste. Ist man Kunstliebhaber oder Kunstprofi und dem Gang ins Museum also vertraut, so fallen einem diese unsichtbaren Benimmregeln nur noch auf, wenn jemand sie bricht. Fast immer, so scheint es, geschieht dies aus einer gewissen Unbedarftheit. Nicht selten registriert man das Fehlverhalten mit strafenden Blicken, die stellvertretend dem Trampel, der gerade die Skulptur angefasst und die Alarmanlage ausgelöst hat, den heiligen Ernst der Kunst bedeuten wollen. Der Betroffene sucht vergeblich, seinen Faux-Pas mit einem Lächeln zu überspielen. Aber er erntet damit keinerlei Sympathien. Das Lachen gefriert und der Ungeschickte trollt sich weg. Er schämt sich. Die anderen finden es peinlich.

Die Scham und die Peinlichkeit, so schreibt Norbert Elias, sind Resultate von Umkehrungen des Fremdzwangs in den Selbstzwang2. Der Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze des Museums erfüllt den Übertreter mit Scham, den Beiwohner mit peinlichem Gefühl. An die Kunst aber denkt dabei niemand. Ihr ist diese Übertretung, nimmt sie daran keinen Schaden, in den meisten Fällen egal. Denn der angesprochene Selbstzwang obliegt mehr dem Ordnungssinn der Kunstinstitution und weniger den Regeln der Kunst selbst. In nicht wenigen Kunstwerken wurde versucht, diese musealen Vorschriften und Benimmregeln außer Kraft zu setzen. Und eben nicht selten widersetzt sich die museale Ordnung der Kunst. Wenn zum Beispiel die Alarmanlage die Näherung an ein Bild von Mark Rothko auf die vom Künstler ersonnene Distanz verhindert. Oder aber bis zu dem Punkt wo der Künstler zugunsten der musealen Ordnung sich selbst zensiert. Vielleicht standen konservatorische Motive im Vordergrund, vielleicht nur der Wille zum monolithischen Schlußresumées eine Gesamtwerks, als Franz Erhard Walther mittels musealen Verbots « Werkhandlungen », an seinen Kunstwerken -wie 2013 in der Hamburger Kunsthalle- nicht mehr gestattete. Die von ihm ursprünglich angestrebte Demokratisierung des Werks, ohnehin schon durch stringente Anweisungen des Künstlers zum « freien » Gebrauch des von ihm zur Verfügung gestellten Materials in Frage gestellt, verschließt sich vollends hinter der strengen Einhaltung einer musealen Ordnung.3

Wie auch immer, schließt die museale Ordnung technisches Fehlverhalten und Allzumenschliches aus. Beim sozialen Kunstwerk kann das technische Fehlverhalten Bestandteil der künstlerischen Inszenierung werden und die Übertretung von Schamgrenzen zur perfiden Hausordnung. Wohlgleich ist jeglicher Blick hinter die Kulissen der Institution tabu. Die Verschwiegenheit um die Geheimnisse der Institutionsorganisation ist das erste der ungeschriebenen Gebote des Kunstbetriebs. Doch geht es dabi nicht nur um mehr oder weniger schmutzige Details der Ausstellungsfinanzierung, um Praktikantenausbeutung oder pikante Details aus der Belegschaft. Das Museum oder die Galerie verbirgt ja noch viel mehr hinter seinen weißen Wänden und den nüchternen Displays der Kunstinstitution verbirgt sich ein komplexes Dispositiv: Die Distanziertheit, welche die museale Ordnung vom Besucher fordert, also ; keine übertriebenen Reaktionen, keine Bewegung außerhalb der vorgegebenen Bahnen, keine lauten Unterhaltungen - schon gar nicht mit dem Aufsichtspersonal - und sich niemals die Blöße geben, von der Kunst nicht allzuviel zu verstehen -diese Form von Distanziertheit findet also ihre Entsprechung im Dispositiv der Institution. Diese gibt sich betont zurückhaltend und ist sets sehr darauf bedacht, den Kunstgenuss nicht zu trüben durch die Offenlegung der für ihre Präsentation erforderlichen Prozesse. Wie bei der Essenszubereitung der Prozess, zum Beispiel das Töten von Tieren4, oder die schlechten Arbeitsbedingungen in der Küche, unkenntlich gemacht wird, so soll auch dem Kunstgeniessenden der Geschmack nicht vergehen. Sei es durch ein Verhalten, das diesem Geschmack widerspricht, sei es durch die Offenlegung von problematischen Details der Acquise, der Finanzierung mit beispielsweise Blutgeld, der Arbeitsstrukturen, schlechten Löhnen im Ausstellungsaufbau, der Praktikantenausbeutung, der Unansehnlichkeit des Kunsttransports und der Hängung, politischer Einflussnahme auf die Sammlungspolitik, der Wille karrieristischer Kuratoren, sich zu kompromittieren und allerhand unappetitliches aus den Hinterzimmern der Museen.

Das schwierige Verhältnis von Fremd und Selbstzwang spielt auch eine besondere Rolle beim sozialen Kunstwerk. Es kann uns in einer Art herausfordern, welche dem Selbstzwang geradezu sublimatorische Form geben kann. Einerseits verlangt es unter Umständen, sich einer erweiterten Museumsordnung zu unterwerfen, gerade auch wenn sie vorgibt, alte Ordnungsmuster aufzubrechen. Indem das Werk dazu einlädt, bekannte Verhaltensmuster aufzugeben und neue Wege zu beschreiten, fordert es vom Betrachter den vollen Willen zur Hingabe an das Werk. Die körperliche Involvierung, die Unterwerfung des Körpers unter die Gesetze eines Kunstwerks, geben, für alle sichtbar, Aufschluß über Ergebenheit und Demut gegenüber der Kunst. Die körperliche Verweigerung gegenüber dem Werk, stelht selten in einem guten Licht. Selten wirkt sie als arrogant. Meist kommt sie einem offenen Bekenntnis zum Banausentum gleich. So verbleibt den armen Ausstellungsbesuchern kein Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Schmach als Ignorant dazustehen oder der beschämten Teilnahme, in der sie ihre Selbstbestimmtheit, vielleicht auch eine würdevolle Haltung, aus dem Willen zur Kunst heraus, aufgeben müssen. Sie müssen partizipieren. Ob dabei die Kunst, wie durch allfälliges Museumsmarketing angepriesen, genossen werden kann, ist fraglich. Verlangt die Kunst mitunter auch anstrengende geistige Leitung von den Betrachtern, so kann diese immer noch den Genußfähigen eine positive Sinnesempfindung darstellen. Der Umkehrschluss gilt bisweilen nicht. Wird man aber zum Subjekt der Prüfungen und Versuchsanordnungen von Künstler und Institution, verletzt die Frage nach dem Genuss das Tabu, das durch die moralische Anrufung oder das imperative Spiel gesetzt ist. So werden aus Besuchern  Banausen, Spielverderber und Frevler.

Eine besondere Herausforderung an den Betrachter stellen solche Werke, die zu moralischem Handeln zwingen, beziehungsweise die Moral des Betrachters auf die Probe stellen. Ein Klassiker ist Yoko Ono's « Cut Piece ». Auch wenn die Künstlerin das Verhältnis von geben und nehmen anders bewertete, den Aspekt des Gebens stärker betonte, so ist letztlich doch die -durchaus auch ökonomisch gemeinte- Frage : Wieviel nehme ich ? Die Künstlerin sitzt in ihrem besten Kostüm da, wieviel nimmt man ihr davon weg? Nota bene: Yoko Ono war bei den ersten Aufführungen 1965 noch arm. Wieviel aber, und das scheint trotz allem die viel wichtigere Frage, nehme ich ihr von ihrer Würde, wie sehr möchte ich dazu beitragen, daß die Künstlerin sich schämt ? Die Anwesenden gehen schon bald vom Sammeln von Stoffetzen über zum Freilegen des Körpers. Als einer der Zuschauer Ono die Träger des Büstenhalters durchschneidet und so ihren Busen freilegt, bedeckt sie ihre Brüste. Das Schamgefühl der Künstlerin wird offensichtlich. Spätestens jetzt überträgt sich das Schamgefühl auf die Partizipienten. Bei der 1965 Aufführung in New York wird der Mann (er hält sich für witzig) der den Büstenhalter auftrennt, der Unmut des Publikums zuteil. Sie finden ihn peinlich. Eine Stimme aus dem Publikum ruft ihm zu : « Cornball ! ». Das Fremdschämen wird so zum Ausdruck von Moral, ganz egal wie subjektiv man mit dem Verdikt des Publikums einverstanden ist. Die Umkehrung von Fremd- und Selbstzwang ist gelungen und die Performance gelangt nachhaltig zu Wirkung.

Die performativen Arbeiten von Flatz sind ganz Prüfung : Spektakel oder Nächstenliebe ? Weitergucken oder die Selbstquälung des Künstlers unterbrechen ? Indem Flatz die Verantwortung in die Hände der Betrachter legt, verkehrt auch er Selbst- und Fremdzwang. Allerdings invertiert er einen von ihm gesetzten Selbstzwang zum Fremdzwang, indem er das Publikum, stärker als die erwähnte Yoko Ono, ethischem Zwang aussetzt. Statt der Passivität des Anguckens ist die Intervention gefordert. Nichts zu tun, wird moralisch fragwürdig, wird zur Schande.

Legendär das Beispiel eines dänischen Künstlers Marco Evaristti, der in einer Ausstellung lebende Goldfische in zehn Küchenmixern beherbergte5. Die Tiere schwammen sorglos in den etwas klein geratenen Aquarien. Dem Besucher oblag es, den Funktionsschalter des Mixers zu bedienen oder eben nicht. Das Werk wäre wohl keiner weiteren Erwähnung wert, wenn nicht ein Besucher eines der armen Tiere durch Betätigen des Schalters püriert hätte. Das Werk Evaristtis entfaltet seine volle Bedeutung in dem Moment, in dem es ihm gelingt, den Zeigefinger auf die verdorbene Moral des Ausstellungsbesuchers zu richten, der stellvertretend für die gesamte Menschheit die profunde Bösartigkeit des Menschengeschlechts vorführte. Fast könnte man meinen, der Künstler habe diese Übertretung wohlwollend in Kauf genommen. Ein anderes Werk, « Occasion » von Cildo Meireles, gezeigt im Frankfurter Portikus6 bestand aus zwei Räumen, getrennt durch einen halb durchlässigen Spiegel. Im ersten Raum befand sich nichts, außer einem Podest, darauf eine Schale mit Geldscheinen und Münzen. Das Werk versuchte, getreu dem Motto « Gelegenheit macht Diebe » den Besucher zum Diebstahl zu verführen, sich gleichzeitig aber mit den aufblitzenden eigenen Moralkonventionen zu konfrontieren. Dabei konnte man sich dann selbst ertappen, in dem man sich beim Stehlen im Spiegel erblickt. Von der durchlässigen Seite aus, im anderen Raum, konnte man den Dieb im peinlichen Moment des Zusammenbruch seiner Moral erwischen, bzw. die Veruchung und das Ringen mit den eigenen Moralvorstellungen des Besuchers im anderen Raum beobachten. Diese künstlerische Arbeit stellt vielerlei Fragen und Anforderungen an das Publikum. Soll man den Geldschein nehmen ? Soll man ihn nehmen, selbst wenn man weiß, daß man beobachtet werden könnte ? Soll man den Dieb, so man ihn erwischt, melden oder soll man sich zum Komplizen machen, weil man sich vielleicht davor schämt, den anderen bloßzustellen, oder davor, sich selbst zum Vigilanten, zum Denunzianten zu machen ? Oder soll einem gar die eigene Indifferenz gegenüber einem solchen Diebstahl vor Augen geführt werden ? Wie dem auch sei, in beiden Beispielen wird niemand die Moral des Kunstwerks in Frage stellen, sondern immer nur die Betrachter, die dieser Prüfung, haben sie einmal den Raum betreten, ausgeliefert sind.

Am Beispiel eines Werks von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz ließe sich das mit noch größerer Deutlichkeit zeigen7. In Harburg errichteten sie 1986 ein Mahnmal für die im Holocaust ermordeten Juden. Es handelte sich dabei um eine mit Blei ummantelte Stele, die durch eine daneben befindliche Tafel auf ihren Sinn hinwies. Mit Stahlstiften konnten Passanten in das weiche Blei ihre Unterschrift ritzen, um ein Zeichen gegen Faschismus zu setzen. Die 12 Meter hohe Stele wurde in acht Schritten abgesenkt, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Die Unterschriften, aber auch alle Kommentare, Schmierereien und Beschädigungen wurden somit für eine unbestimmte Nachwelt festgehalten. Natürlich war es von Gerz einkalkuliert, daß es anti-semitische Äußerungen, nazistische Schmierereien und allerhand Einträge geben würde, denen es am nötigen Ernst mangelte. Hierbei unterzieht er aber nicht ein gebildetes Kunstpublikum einem Moralcheck, sondern auch Otto Nomalverbraucher. Was das Künstlerpaar hierdurch bewirkt, ist daß er einerseits an den Ernst des Gedenkens appeliert. Aus dem Kunstrahmen herausgesprengt, fragt er welche Würde das Gedenken besitzt, wo das Erinnern schwindet. An die Öffentlichkeit gewendet, fragt das Werk nicht nach dem feierlichen Ernst der Kunst. Es fragt nach dem öffenlichen Umgang mit dem Gedenken und klammert dabei offizielle Agendas des Gedenkens aus. Durch die Unmißverständlichkeit seiner Mission und die Unmöglichkeit, das eingetragene zu revidieren, eröffnet das Werk die Möglichkeit, sich analog zur versinkenden Stele, in Grund und Boden zu schämen und über eine Gesellschaft nachzudenken, die so Schreckliches verbrochen hat und so wenig Ernsthaftigkeit oder gar noch so viel Beschämendes im Gedenken aufbringt.

Allen genannten Werken ist gemeinsam, daß es zu ihrem Verständnis keinerlei Spezialwissen der Kunstliebhaber bedarf und das richtige Verhalten zu ihnen sich aus dem gesunden Menschenverstand ergibt, an den sie alle appellieren. Alle sprechen die Betrachter gleich an, als entscheidende Wesen und nicht als Museumsbesucher, als Kunstliebhaber, als Bildungsbürger. Aber ist Kunst, die ihren Kunstcharakter ausblendet oder verschleiert gegenüber den Betrachtern fair?

1Pierre Bourdieu, Alain Darbel, Die Liebe zur Kunst, UVK Konstanz 2006, Tl.I, S.33 ff.
2Norbert Elias, Prozess der Zivilisation ; Bd.1, S.184
3Petra Schellen, « Rückfall in die Vergangenheit », Rezension, taz vom 18.4.2013
4Bernhard Rathmayr, Zwang und Selbstverwirklichung, Transcript, Bielefeld 2011, S,142
5« Goldfische im Mixer », Meldung im Tagesspiegel vom 25.11.2000
6Cildo Meireles, « Occasion », Ausstellung Nr. 124, Portikus, Frankfurt am Main, 2004