Montag, 2. Dezember 2013

Expressionist gegen Depressionist

Masse, Maske und Betrug.
Expression und Depression im Pop.
Von Diego Castro

Der große Unterschied zwischen den Ausdrucksformen der öffentlichen Erscheinung im ausgehenden 20.Jahrhundert und danach, besteht im Vergleich zum 19. Jahrhundert in Sichtbarkeit oder Unterdrückung von Expressivität. Mit der bürgerlichen Revolution und der Auflösung tradierter Wiederwerkennungsmerkmale ständischer Kultur, gewannen neue Unterscheidungen von Klassenzugehörigkeit an Wichtigkeit. Diese konnten sich an Variationen des bürgerlichen Bekleidungstils manifestieren oder an Benimmcodes und anderen Äußerungen des Geschmacks. So entstand beispielsweise die höfliche Zurückhaltung als Ausdruck einer gewissen Finesse. Überhaupt galt öffentliche Expressivität bald als vulgär. Herrschte zunächst noch im Theater eine klassenlose Gesellschaft, in der es Gang und Gäbe war, den Spielfluss mit wilden Zwischenrufen und Wiederholungen besonders beliebter Stellen zu unterbrechen, so wurden mit der Einführung des wagnerianischen Gesamtkunstwerks spontane Gefühlsausdrücke und eine Unterbrechung des totalen Kunstwerks als unfein angesehen. Mit der „Maske der Tugend“1 wurde das Gesicht zur Fassade und die Gefühle hatten sich in die Totalität des Kunstwerks zu transzendieren. Ausgehend von Richard Sennetts Konzept der Stadt als Theater, war die gesamte öffentliche Erscheinung im viktorianischen Zeitalter von einer Tabuisierung der Lust, des Genusses und Gefühlen jeglicher Art geprägt. Gewährt wurde sie den Kunstcharaktern (Romanfiguren, Schauspielern, Sängern) und den Kunstschaffenden. Disziplin und Triebunterdrückung wurden zum Ausdruck von Kultur. Selbstkontrolle wurde so zum Merkmal der Klassenunterscheidung. In der Oberklasse dominierten klassistische und rassistische Vorurteile, die hierauf basiert waren. Hierbei wurde die „Zivilisiertheit“, welche sich durch standesübergreifende Gleichbehandlung auszeichnete, durch die „Kultiviertheit“ ersetzt, welche Unterschiede in dem Sinne nicht erlaubte, wie homogenen Kulturkonzeptionen widersprach.2

Triebunterdrückung und autoritäre Disziplinierungstechniken sollten schließlich zu integralen Bestandteilen, gar zur Essenz totalitärer Herrschaftsstrukturen des ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden. Dabei war das bei den totalitären Massenbewegungen eine viel gepflegte und essentielle Technik: die symbolische eruptive Befreiung von autoritären Zwängen als Teil des Unterwerfungsapparats. Die Befreiung ist dabei jedoch nicht revolutionärer oder überhaupt politischer Natur. Sie ähnelt in ihrer Funktion, die angestaute entweichen zu lassen, eher der Schrei- Therapie. Lustfeindlichkeit, Anti-Expressivität und Triebunterdrückung wurden so im Faschismus in einer inszenierten Entfesselung auf Geheiß zum dynamischen und vitalen Element in einer Kultur der Askese. Der Triebstau wurde zum wirksam eingesetzten Werkzeug der Massenaffizierung bis zum Krieg. Was zur Partizipation motivierte war also eine Mixtur aus Entsagung und formeller Strenge und Homogenisierung einerseits, sowie der kulminierende Überschwang des Wir-Gefühls und die Externalisierung des Selbsthasses auf das Feindbild andererseits.

Auch der Stalinismus hat ähnliche Instrumente der Massenaffizierung gekannt, wenn auch Motivlage, Funktion und Technik anders zu bewerten wären. Bei der rabiaten Durchsetzung unitärer Staatsästhetik spielte weniger die Unterdrückung der Sexualität denn Devianzparanoia eine Rolle. Sehr wohl sind aber die formalen Homogenisierungen der Massen in beiden Systemen vergleichbar. Doch der Stalinismus hat nie mit dem Motiv des „Volkszorns“ operiert. Eine kontrollierte Deregulierung der Staatsgewalt gab es hier nicht, trug sich doch der Ausdruck der Linientreue bis in die kleinste Pore. Wo alles Ausdruck des Geistes der Revolution bedeutete, war die Triebunterdrückung war kein zentrales Element der Machtausübung. [...]
Auch die demokratisch geprägten, kapitalistischen Staaten verfügten über autoritäre Züge, die gerade mittels -auch religiös motivierter- Lustunterdrückung, kulturtechnisch umgesetzt wurden. Diese sind vor allem einer protestantischen Arbeitsethik geschuldet, welche sich vom Aufschub der Jouissance ins Jenseits ernährte.
Als Rock'n'Roll in der westlichen Welt aufkam, war es genau das Gegenteil: die irdische Einlösung paradiesischer Freuden und eine Unterminierung einer Hegemonie der Sittenstrenge. Und sei es in „sündhafter“ Form. Rock'n'Roll ist in diesem Sinne ebenso revolutionär wie katholisch. Ob Auflehnung gegen Establishment und Elterngeneration oder damit gerade auch teuflische Verführung, die nach 3 Ave Maria und 5 Vaterunser schreit. Wo sich Sympathy for the Devil breitmachte, schrumpfte die alte Welt und chaotische Masseninszenierungen von den Stränden von Brighton zu den Äckern von Woodstock bis zum Altamont Speedway wurden zur Gegeninszenierung von Militärparaden und Stechschritt. Doch, wie wir heute wissen, birgt auch die aufgeklärte Welt ihr Tücken: Auch der Rock'n'Roll war imstande, Hegemonien zu errichten, in denen Unvermögen zu jedweder Expressivität bestraft wird. Weiter wissen wir auch um das subtile Sex-Appeal der Lustverweigerung. Punkrock in seinen Anfangstagen und später New Wave konnten gerade in der Lustverweigerung Autonomie vermitteln und Eros entfalten. Ian Curtis ist hierfür nach wie vor mein Lieblingsbeweis. Zwischen Maskenhaftigkeit oder Expressivität fällt sich sowohl die Wahl der Erscheinung wie die Wahl nach einer Form der Unterwerfung.

  1. Der Expressionist. Ihm kommt eine Stellvertreterfunktion bei, die das bürgerliche Unvermögen, sich öffentlich und ungehemmt auszudrücken, kompensieren soll. Er lässt seiner Emotionalität sowie seiner Sexualität zumindest (oder meist?) symbolisch freien Lauf. Er verkörpert ihre Zustände ganz und gar betont. Nicht aber nur um seiner selbst Willen oder als Effekt einer übersteigerten, das Selbst transzendierenden Form der Selbstverwirklichung. Vergessen wir für einen Moment das immanente Starsystem, das uns unermüdlich bedeutet, auf der Bühne stünde ein Mensch und kein Schauspieler. Sehen wir den (Pop-) Expressionisten als das, was er für uns eigentlich ist: ein Image. Dieses Bild steht für die jähe und umfassend erschöpfende Verausgabung von Lebensenergien. Für entfesseltes Sein, absolute Freiheit und radikale Autonomie. Es verkörpert sich in den frühen Gemälden der Brücke, im Pollock'schen Malgestus, in Jim Morrisson's Lederhose, in Iggy Pop's nacktem, von Glasscherben zerschundenem Oberkörper, in Sid Vicious blutender Nase, aus der das Blut über die provokativ hochgezogene Oberlippe läuft, in Janis Joplins Whisky-geschwängerten Schweissperlen, die über ihr schmerzverzerrtes Gesicht tropfen oder in Kurt Cobains gezielt selbstverletzenden Sprüngen ins Schlagzeug-Set. Also Inszenierungen körperlicher Entgrenzung, Überwindung von Hemmungen durch und mit Schmerzen. Sie erinnern uns an archaische Rituale. […] Befreiung vom Tabu der Schmerzes und Autonomie durch Selbstbestimmtheit im Schmerz. Dann unvermeidlich: Die Jesus-Nummer: Der Popstar als drogenabhängiger, selbstzerstörerischer Martyrer: Dave Gahan als Heroin-Jesus. Amy Winehouse und Pete Doherty als neue Variationen über ein altes Thema. Auch Sportivität kann durchaus eine vergleichbare Symbolkraft entfalten. Ausdauer und Höchstleistungen bringen den Performer an die Grenzen seiner Möglichkeiten, während der Zuschauer staunt.
    Geschwindigkeitsrekorde im Grindcore, mit Taktgeschwindigkeiten von 180 bpm und mehr, ebenso sehr wie dem Bodybuilding ähnliche Posen im amerikanischen Hardcore eines Ray Cappo oder Henry Rollins, oder bei der klassischen Metalband „Manowar“. Ebenso die choreographierte Aerobic der Madonna stellen immer wieder Höchstleistungen als Überschreitungen dar. Stets geht es um eine Verschiebung des körperlich Möglichen und eine Angleichung des Vorstellbaren. Dabei sind die Inszenierungen dem Charakter nach sehr unterschiedlicher Ideologie. Verschreibt sich Grindcore extatisch-anarchischer, gar absurder Höchstleistung, steht Madonna mehr für ein kapitalistisches Leistungsprinzip, auch wenn sie selbst Konventionen zu brechen sucht. So ist ihr Feminismus, wie beispielsweise in „Express yourself“ eher als ein Appell an die sexuelle Leistungsfähigkeit des Mannes3 und eine Exploration konventioneller Unterwerfungsschemata zu interpretieren. Die New York Dolls, Lou Reed oder Pete Shelley standen hingegen spezifisch für Sprengung der männlichen sexuellen Normativität, ohne sich -im Gegensatz zu Madonna- auch an ein schwules Publikum zu richten.
    Allen gemein ist die wenig Spielraum für Interpretationen lassende Performance, in der Lebensenergien ungeahnten Ausmaßes öffentlich verbrannt werden, explosionsartig und expressiv. Der überhitzte Popstar -um ein altes Bild von Marshall MacLuhan zu bedienen- dessen Exothermie sich mit einem Verhältnis zwischen Feuersbrunst und Pyromanen beschreiben liesse: Der Pyromane ergötzt sich am Feuer, wird aber niemals in es hineintreten. Er guckt gerne zu und vollführt zum „Hey Hey, My my“ seinen Freudentanz: Out of the blue into the black.
  2. Der Depressionist: Dieser Typus ist gewisser Hinsicht subtiler. Er entsagt sich der Sinnenfreuden, ohne dabei jedoch ohne Libido zu sein oder asexuell zu wirken. Im Gegenteil. Wie bei Pygmalion und Galatea erwächst die erotische Ausstrahlung dem von den Frauen enttäuschten Pygmalion bei der Schaffung seiner Skulptur. Die passive Skulptur erwacht schließlich durch die Liebkosungen ihres Erschaffers zum Leben. Wie sich die zum Menschen gewordene Skulptur wirklich fühlt, wird nicht befragt. Der Depressionist verweigert sich der Expressivität und überhaupt der Selbstverwirklichung in einer Gesellschaft, die sich selbige Motive zu Eigen gemacht hat und in der sie als ein dominantes, perfides und beeinträchtigendes Rollenmodell dienen. Sie sind Bestandteil von Normalisierungen, in denen stellvertretend für tatsächliche Übertretungen gesellschaftlich längst erreichte Übertretungen entfesselt werden. Diese „Übertretungen“ werden somit zu affirmativen Akten. Der Depressionist erkennt diesen Druck und verweigert sich ihm. Und zwar, indem er die Entgrenzung nicht als erreichten Zustand herzeigt, sondern in dem er sich als Sisyphos inszeniert. Das Drama des Gehemmten, der sich als unrealisiertes Selbst präsentieren muss, der seine Wunden offenlegt. Auf das Parkett der Bühne getreten, um exemplarisch die innere Anspannung bis zur Explosion zu bringen, ohne dass es zum Knall je kommt. Den Bogen aufs Äußerste gespannt, ohne den Pfeil abzuschießen oder der Spannung des Bogens auch nur eine Sekunde lang nachzugeben. Immer bleibt die selbst gewählte Maske auf, und wir können erahnen, wie das Gesicht darunter kocht. Der Depressionist wird die Maske nicht absetzen. Und keiner -wünscht er es sich insgeheim auch noch so sehr - möchte diese Entzauberung wirklich sehen. Und gerade die Maske ermöglicht es, uns hinein zu versetzen in die kältesten Sterne: Ian Curtis. Nur die Maske ermöglicht es uns, die Intensität der Abwesenheit von Intensität voll zu spüren. Die Verneinung der Expressivität geschieht indes stets mit vollem Ausdruck, sozusagen als als anti-expressive Intensität. Ein Paradoxon, welches sich mit einer unterschwelligen Emotionalität ansammelt, deren Ausdruck aber kalt bleiben muss. Dafür steht die öffentlich exemplifizierte Unterdrückung der eigenen Sexualität bei Morrissey bis hin zur Verneinung der sexuellen Identität. Die inszenierte Asexualität war natürlich eine Reaktion auf die sexuelle Befreiung. Aber noch entschiedener als asexuell wurden die anti-sexuellen Posen des Punk zum Ausdruck der Befreiung vom Terror der Körperlichkeit der Hippies. Die unterdrückte Körperlichkeit der Nazis wurde auf links gedreht, übergestülpt und vorgeführt. Und wem das noch nicht genügte, dem bot sich die Verneinung des Menschseins überhaupt: John Foxx, Kraftwerk, David Bowie oder Gary Numan, der sich in einem Interview mit dem Guardian so äußerte: "[I] got really hung up with this whole thing of not feeling, being cold about everything, not letting emotions get to you, or presenting a front of not feeling". Das Ergebnis ist eine kulturelle Form, in der affektive Störungen, die sich aus einem Verhältnis zu einer kaputten Gesellschaft, welche die normativen Formen und Grenzen für Gefühlsäußerungen steckt, emanzipatorisch zur Kunst erheben. Dieses ließe und lässt sich problemlos in einen kulturellen Kontext übertragen, der wie heute in der westlichen Welt Expressivität in der Form wie wir sie heute kennen (Expressivitäts-Terror) normalisiert. Dadurch ist der entgrenzende Depressive gegenüber dem Expressiven heutzutage im Vorteil, denn dieser hat -wie bereits gesagt- nichts mehr zu entgrenzen. Dem Depressiven gelingt nach wie vor das Kranken am Zwang der Expressivität.
Wir konnten uns früher von Mick Jagger, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Iggy Pop und all den anderen nur wünschen, ihnen nah zu sein, in der Hoffnung ihre Energie ginge auf uns über. Die Intensität können wir nur teilen, miterleben oder einfach bewundern, falls es uns doch nur gelänge, ganz und gar bei uns zu bleiben. Niemals konnten wir an ihre Stelle treten, außer wir wurden selber zu Schmerzensfiguren, zu Künstlern der Veranschaulichung von Hemmungslosigkeit. Dem Depressionisten können wir bis heute nicht nah sein. Er trägt für immer seine Maske. Er registriert uns, er stellt sich vor uns, um uns unsere Trennung vorzuführen. Wir können ihn nicht bewundern. Wir können ihn nicht berühren. Berührten wir ihn, würden wir seine Aufführung, würden wir ihn selbst zerstören und auch uns selbst gleichzeitig dabei auslöschen. Wir können nur dem Depressionisten nur erlauben, daß er uns berührt, indem wir zulassen, dass er sich weigert, uns zu berühren. Indem wir die Abwesenheit der Berührung intensiv und schmerzhaft fühlen. Wie in dem Witz über den Sadisten und dem Masochisten, in dem letzter winselnd um Schläge bettelt und der Sadist die Arme verschränkt unter sardonischem Gelächter die Hiebe verweigert.

Nur indem wir versuchen, die Rolle des Depressiven als unser Schicksal für 5 Minuten anzunehmen, können wir ihm Nahe sein. Nicht indem wir UNS in IHN hineinversetzen. Vielmehr indem wir IHN in UNS hinein versetzen, können wir ihn spüren mit der Übelkeit des Frischverliebten, mit dem pulsierenden Blut des Rasenden und den tonnenschweren Füßen einer Sphinx. So wird die Begegnung zweier Seelen in all ihrer Immaterialität zu einem erotischen Rendez-vous mit sich selbst.

Eine Gemeinsamkeit im Erleben von Popkultur oder einer Kunst, die Schnittmengen mit ihr bildet, steht immer im Konflikt mit Definitionen von der Authentizität des Erlebens. Nicht nur um ihrer Momente von Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit Willen. So kann das bewusst anti-authentische mitunter authentischer wirken als etwas, das Authentizität für sich beansprucht, oder als etwas, das Authentizität gar zu seiner Raison d'être erhebt. Eben weil es sich dem Risko einer durchschaubaren Verlogenheit oberflächlich nicht aussetzt. Das ist möglich weil sich hier ein Geheimnis gestaltet und aufführt. Das ist Magie. Was dahinter steht, mitunter ein Taschenspieler, interessiert nicht. Der perfekte Zaubertrick, verschleiert stets den Ursprung seiner Technê.

So steht die Masse, die sich mit erhobenen Feuerzeugen im Takt der Ballade schwingt oder sich zu manischem Hey-Ho Gebrüll, Stage Diving und dergleichen von sogenannten charismatischen Frontmännern anstiften lässt. Im krassen Gegensatz dazu, der statische, sich sichtlich Unwohl fühlenden Neurotiker oder emotionsarme Android gegenüber einem gelähmten Publikum. Trägt letzter offensichtlich eine Maske, täuscht der Expressionist das Publikum mit der angeblichen Unmittelbarkeit seiner Regungen.

Der Expressionist führt angeblich sein Selbst auf. Ob dem so ist oder nicht, er unterwirft sich gesellschaftlicher Norm, anstatt sie zu überwinden, indem er sich dem Intimitätsterror unterwirft und selben auch exerziert. Die Einschreibung in das Vorgegebene und die Ausformulierung dessen, worin der Rezipient in Unterwürfigkeit sich einzuschreiben hat, bringen dem Pop-Expressionisten mitunter den Vorwurf mangelnder Authentizität ein. Durch Verweigerung gängiger Pop-Codes mag dem Pop-Werk ein gewisses Moment an Authentizität gelingen. Gerade indem es seine eigene Artifizialität als potenziell brüchig darbietet, oder -noch perfider- die Korrumpiertheit der eigenen Authentizität offenlegt. Der Star, der keiner sein will, bzw. der Star im vermeintlichen Kampf gegen die Kulturindustrie oder das Spektakel. Perfekter könnte der Expressionist sein Spiel nicht spielen.

Wo Expressionist und sein expressiver Gegenpart, der Depressionist scheitern müssen, nimmt die Auflösung des Stars in der elektronischen Musik ihren Ursprung, dem in den 1990er Jahren viel diskutierten Tod des Autors brav folgend. Trat somit die Autorenschaft hinter die funktionalistische Maschinenmusik zurück, und zwar bis zu einem Punkt, in dem die Einförmigkeit der Produktionen Aufschluss gab über die verwendeten Programme und Betriebssysteme, so setzte sich die Diktatur der Künstler-Identitäten auf den Dancefloors letztlich doch durch. Jedoch möchte man anmerken, dass hier die Hierarchie von Schöpfern und Rezipienten ins Wanken geraten war und sich die Betrachtung von personifierten Oberflächen in den Bereich der Technik verschiebt. Mit selbstredend vielen Ausnahmen, kommt die elektronische Musik ohne den Verweis auf Schöpfungs- und Darstellungsvermögen der Erschaffer zum Ausdruck. Aber Ausdruck wovon? Zunächst einmal fällt die Abwesenheit von Textlichkeit, bzw. dessen Reduktion auf. Und die Frage danach, wovon Techno eigentlich spricht, bleibt letzlich schwer zu beantworten, weshalb ich den, zugegebenermaßen polemischen, Begriff der Funktionsmusik gebrauchen möchte. Zumindest aber muss selbiger eine Ablehnung von Expressivität oder überhaupt von Diskursivität eingestanden werden. Zu Unterscheiden wären hier aber die „kalten“, durchaus expressiven Qualitäten des New Wave oder Elektro-Pop von der Inhaltsarmut des Techno. Interessanterweise war die, wie immer wieder betont wurde, absolut ernst gemeinte Botschaft „Love, Peace and Unity“ Anrufung eines konfliktfreien, aber zwingenden Gemeinsinns. Die Eintracht als Negation von Diversität, die Bedingungslosigkeit der Liebe als Auslöschung gedanklicher Begegnung und absoluter Verkörperlichung des Zusammenseins und der Frieden als Ausblendung von Konfliktualität, anstelle von Bewältigung der Selben.

In Antononi's Blow-up gibt es diese Szene: da steht ein emotionsloses Publikum vor den verkrampft wirkenden Yardbirds. Als Jeff Beck. scheinbar in Wut über ein technisches Problem, seine Gitarre zerstört und die Einzelteile ins Publikum wirft, stürzt sich die bis dahin regungslose Masse auf das augenblicklich zum Fetisch gewordene Objekt. Neben der Frage nach dem Fetisch, steht hier für mich die Frage der Aktivierung im Vordergrund. Die Ölgötzen vereinen sich im feindschaftlichen Kampf um das Ergattern des Relikts. Sie lassen ihrerseits ihre Masken fallen und entpuppen sich als Meute. Was sie vereint, ist eine animalische Konkurrenz. David Hemmings, Hauptdarsteller des Streifens, ergattert den Gitarrenhals und flüchtet mit ihm nach draußen. Alle Verfolger abgehängt, verliert das Relikt seinen Kontext und somit seinen Wert. Er wirft das wertlose Ding auf die Strasse. Ein Passant hebt es auf, erachtet es als wertlos und schmeißt es ebenfalls auf die Strasse. Hemmings wiederum, Fotograf, Beobachter, Außenstehender unter Außenstehenden, legte die Wolfsmaske an, und stürzte sich in die Mitte des Kampfes. Einmal aus ihrer Mitte befreit, legte er die Maske wieder ab und wurde vom Beobachter und vom Rollenspieler wieder zu sich selbst. Typisierten im antiken Spiel Masken die Persona und legten einerseits das zu erwartende Emotionsspektrum fest, so war die Maske spätestens seit dem Barock Symbolbild der Täuschung, gar des Betrugs.


1Richard Sennett, „Civitas“, deutsche Ausgabe, S. Fischer, Frankfurt am Main, S. 128 ff
2Ebd.
3 Marco Antonic: „Madonnas Express yourself: Die Dominanz der weiblichen Sexualität einer postmodernen Femme fatale“, Kp.4. GRIN2000



Europäische Obdachlosenpolitik

Gesetze gegen die Ärmsten

Diego Castro über den verfehlten Umgang mit Obdachlosen in europäischen Ländern 

(ND vom 26.10.2013)
 
Nach der Entmachtung des Verfassungsgerichts im März brachte die ungarische Regierung unlängst im zweiten Anlauf ein umstrittenes Gesetz durch. Obdachlosen verbietet es, im Freien zu übernachten. Die Ausweisung von Verbotszonen liegt im Ermessen der Gemeinden. Orte des ungarischen Weltkulturerbes sind kategorisch mit diesem Raumverbot belegt. In Budapest gibt es nur sechstausend Obdachlosenunterkünfte, aber circa zehntausend Menschen ohne festen Wohnsitz. Ihr Anblick stört den Tourismus und kratzt am Selbstbild der Regierung von Viktor Orban, die mit wirtschaftlichem Aufschwung punkten möchte.
Mit den Gesetzen steht Ungarn nicht allein. Viele europäische Städte kennen ähnliche Maßnahmen. Auch hier gelten Ortsverbote, falls eine Störung der Sicherheit oder Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht. Letzteres, so das deutsche Bundesverfassungsgericht schwammig, ist ein Verstoß gegen ungeschriebene Regeln und »herrschende soziale und ethische Anschauungen«.
Neben der Aushebelung der Verfassung sticht das ungarische Gesetz durch das harte Strafmaß hervor. Ohne Vorliegen einer Straftat werden Geldstrafen, Gefängnis oder Sozialstunden verhängt. Mit der gesetzlichen Verankerung sozialer Ausgrenzung bricht Ungarn ein europäisches Tabu. Von Obdachlosen Geld zu verlangen erscheint bizarr. Die Optionen Haft und Zwangsarbeit erinnern an die nationalsozialistische Verfolgung sogenannter Arbeitsscheuer. Doch wo sich in Europa nun Entrüstung regt, wird vielleicht mit zweierlei Maß gemessen.
Nicht nur in Ungarn werden die schwächsten Glieder der Gesellschaft schlecht behandelt. Die eklatanten Verstöße gegen die Menschenrechtscharta in osteuropäischen Autokratien mögen uns zum rechtsstaatlichen und moralischen Fingerzeig motivieren. Doch auch hier sind Ortsverbote für unerwünschte Personengruppen alltäglich. In der Ordnung des öffentlichen Raums sind sie subtil angelegt. Gentrifizierung, Verbote, Überwachung und Gestaltung des Stadtraums tragen täglich zur Diskriminierung der Ärmsten bei.
Schon mal darüber nachgedacht, warum es bei Stadtmöbeln immer mehr Schalensitze und statt Holz kalten Stein gibt? Stets gilt es, das Verweilen im öffentlichen Raum so unangenehm wie möglich zu gestalten. Die Mittel, Wohnungslose oder Jugendliche auch ohne Gesetze zu vertreiben, sind vielfältig. Selten als Maßnahmen erkennbar, entbehren sie oft der rechtsstaatlichen Grundlage.
In der Sozialpolitik hat die Idee, Arbeits- und Wohnungslose vergriffen sich am Gemeinwohl, unheilvolle Kontinuität. Davon zeugen bis heute klassistische Vorurteile und verbale Ausfälle von Politikern. Hier wird das Recht auf Sozialleistungen zum Recht auf Faulheit umgedeutet, Leistungsempfänger werden zu Parasiten und Verstöße gegen das Leistungsprinzip zu spätrömischer Dekadenz. Eine Meinungsmache, die sich der Kriminalisierung sozialer Not verschrieben hat. Scheinbar sollen so unsoziale Gesetze in gesellschaftlichem Ressentiment verankert werden. Politische Rhetorik, die Menschen in Leistungsträger und -bezieher einteilt, zeugt von voranschreitender »Brasilianisierung« Westeuropas. Damit beschreibt der Soziologe Ulrich Beck einen Prozess sozialer Segregation, die sich sozialräumlich niederschlägt. Sie kommt nicht von ungefähr. In einer Gesellschaft, in der die Arbeit schwindet, muss ein auf sozialer Ungleichheit beruhendes System Einiges unternehmen, um sich zu verankern. Der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer schreibt, dass die Ökonomisierung des Sozialen für die verstärkte Beurteilung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit verantwortlich zu machen sei. Eine Hierarchie der Herabwürdigung, an deren Ende Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder Migranten stehen, sei ursächlich für Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gewalt, Nötigung und Exklusion der Ärmsten sind europäischer Alltag.
In Ungarn wurde nur in Paragraphen gegossen, was bei uns lieber unter den Teppich gekehrt wird.