Montag, 30. September 2013

Der grosse Fingerzeig, oder: Die Körperfresser kommen



Der grosse Fingerzeig, oder : Die Körperfresser kommen!" 1)

Die Frage beim partzipativen Kunstwerk, ob es konstativ oder performativ sei, stellt sich nicht. Das Kunstwerk tut nie so, als würde es nicht gesehen. In seiner Präsenz ist es voll und ganz von dem Bewusstsein geprägt, wahrgenommen und erlebt zu werden oder in Erwartung dessen zu verharren. Es hängt an der Wand, steht auf dem Sockel und wiegt sich in der Gewissheit, betrachtet zu werden. Wie wenig also das Kunstwerk in seiner klassischen Medialität sich selbst genügen kann, so wenig genügt das soziale Kunstwerk sich selbst. Mehr als noch einfach gesehen, eventuell reflektiert zu werden, vielleicht sogar dem Betrachter ein Ozean zum versinken zu sein, ragt das Verlangen des partizipativen Kunstwerks über das Eintauchen hinaus ; es verlangt von den Betrachtern kollektive Efferveszenz2. Auch geistig ein Teil von ihm zu sein war dessen Ziel, es gleichsam physisch zu aktivieren und sich seinen Gesetzen in einem Umfang zu beugen, der mehr verlangt, als nur die Unterwerfung unter den mitunteren Totalitätsanspruch eines solchen Werks, welche in der Demut vor der Kunst endend, sich in Wohlgefallen ausnehmen könnte. Mehr als oft verlangt es aber nach einer Veränderung der Lebensgewohnheit und Einstellung, kurzfristig oder auch nachhaltig.
Dabei besteht aber ein immenser Unterschied zwischen erstens dem Werk, das Gegenentwurf ist, und zweitens jenem, welches Antinomie nicht erlaubt. Wo selbst die Totalkunst ihren Widerspruch zum Betrachter affirmieren kann, ohne dabei ihren Absolutheitsanspruch einzubüßen, setzt die Zweite der genannten Charakteristiken des sozialen Kunstwerks eine normative Nähe zum Betrachter, der dieser sich anzugleichen hat. Die Gestalt dieser Angleichung ist dann die Optimierung. Folgt erstes Verhältnis zwischen Werk und Betrachter also der Möglichkeit einer dialektischen Beziehung zwischen der Absolutheit des Werks und der durchaus affirmierten, dem Werk gegenüber stehenden Identität des Betrachters, so negiert der zweite Entwurf die Identität des Betrachters, sowie den Unterschied zwischen Werk und Betrachter. In diesem Zusammenhang gerät eben dieser Unterschied zur Anomie, die solch ein Werk auszumerzen sucht.



Zentral ist dabei also oft meist das Motiv, sich selbst zu verbessern. Bemerkenswert ist hierbei der Unterschied zwischen Veränderung und Verbesserung. Der erste Entwurf birgt zwar eine oppositionelle Idee, beispielsweise die einer Verbesserung der Welt, zu welcher man sich zu Verhalten habe, zu der man beizutragen habe. Jedoch gewährt er die Möglichkeit, sein falsches Verhalten durch Taten zu verändern, oder durch Erweiterung des Denkens, immer jedoch auf die Formung des Motivs „Welt“ hinauslaufend. Sie ist das Subjekt dieses Veränderungswillens. Die Autonomie des Betrachters bewahrt sich alldieweil. Das Individuum ist hier also nicht zwangsläufig Subjekt des Werks. Zweiter Entwurf hingegen setzt ein Grundmuster voraus, das neoliberale Funktionsstandards des zum Subjekt gewordenen Individuums zur globalen Norm, sogar zum Naturgesetz erhebt und die Differenz zur Insuffizienz des Unterworfenen wandelt. Gleichzeitig gelingt es diesem Konzept, den Eindruck der Selbstverwirklichung zu vermitteln, wo es doch nur um Optimierung zugunsten eines entfremdenden gesellschaftlichen Konzepts geht. Selbst wenn es, auch Moral anrufend, um Weltverbesserung geht, so steht doch meist im Vordergrund, dass man durch persönliche Angleichung seiner Performance und seiner Lebenseinstellung dieses Ziel verinnerlichen sollte, als wenn das Projekt Weltverbesserung im Übermaß auf die Verantwortung des Einzelnen fallen würde oder sogar davon abhinge. Findet eine solche starke Betonung der individuellen Verantwortung im Werk statt, kann man, die ideologischen Umwälzungen der post-keynesianischen Welt im Hinterkopf, wohl nicht umhin, die starke ideologische Färbung desselben zu konstatieren. Nie aber steht das Individuum allein und unschuldig neben den Gemeinheiten der Welt. Stets fordert sie - diesen ideologischen Vorgaben folgend - den Einzelnen ein, wo die Welt ihre Schuldigkeit ausbügeln muss, um der benötigten Unterstützung einzuholen. Hinter diesem Werkcharakter verbirgt sich ein weltgestaltendes Projekt, das vor allem eines nicht gebrauchen kann: die Existenz von Politik. So wie es bei Rancière zur Kongruenz der Begriffe Politik und Demokratie kommt, bedeutet die Internalisierung der Politik, also die Verschiebung des politischen ins Private, Postdemokratie3.

Kaum eine weltformende Ideologie hat sich je so beflissen gezeigt, ihre Existenz zu rechtfertigen wie der Neoliberalismus. Wenn Gemeinschaft angerufen wurde, fiel es selbst den reaktionärsten Ideologien leicht, sich unter Berufung auf die Gemeinschaft darzustellen. Der Neoliberalismus kann sich, nach dem Siegeszug der Demokratie, hierauf wohl kaum berufen. Daher entbehrt die Dichotomie von Anrufung von Teamgeist einerseits und Betonung der Individualität andererseits auch nicht eines schizophrenen Attests. Der Imperativ, sein Leben zu ändern, ist vielleicht die Geißel des neoliberalen Ethos und Ausdruck der mit ihm verbundenen Ästhetik. Dabei ist das, was „das eigene systematische Denken wieder vermehrt auf das Individuum aus[richtet]“4, ganz gleich, ob es sich auf eine Anpassung an die Leistungsgesellschaft oder eine gesteigerte Spiritualität im Sinne des New Age und tantrischem Sex bezieht, allzu oft mit dem Motiv belastet, "biografische Lösungen für Systemwidersprüche zu finden"5. Die zentrale Frage hierbei ist: Ist der Lauf der Welt dermaßen vorbestimmt, dass eine Verbesserung der Welt nicht mehr externalisiert werden kann und immer nur das Individuum sich nach der eigenen Insuffizienz angesichts der Probleme der Welt fragen muss? Anders gesagt: Welch dunkler Macht wollen wir uns unterwefen, die uns verbieten will, die Frage nach der Verbesserung der Welt zu Stellen und setzt an ihre Stelle die Optimierung des Individuums? Ein oft zitierte Frage ist bei der Behandlung der Probleme der Welt, was der Einzelne tun könnte. Dabei hofft die Ideologie, die sich zur Beantworterin dieser Frage selbst erkoren hat, auf die Wirksamkeit einer Symbolik, die -einem Fischschwarm gleich- durch den inpekablen Glanz der Handlung Einzelner auf ein schwarmintelligentes Handeln des Kollektivs übertragen soll. Der eigentliche Zweck ist aber bei der Anrufung der Einzelinitiative die radikale Ausblendung jeglicher systemischer Anomie. Nur der Einzelne trägt die Verantwortung für alles Ungemach der Erde und soll sich daher in einer zum Projekt geschrumpften Welt (wobei Projekt eine finite Lösbarkeit impliziert) in allerhand „Übungen6“ bewähren. Diese Übungen, die Peter Sloterdijk in seinem Plädoyer für Selbstoptimierung beschreibt, entsprechen der geradzu biologistischen Hayek'schen Idee von konstanter, kreativer Anpassung an eine unsteuerbar gewordene Umwelt, die nicht mehr Resultat menschlichen Eingreifens sei, sondern der spontanen Ordnungen der Märkte7.
So kann man zwischen der sozial-interventionistischen Form des sozialen Kunstwerks der 1970er Jahre und der Esthétique rélationelle einen Wandel verzeichnen, der sich wie eine Analogie des weltbildlichen Wandels vom Keynesianismus zum Neoliberalismus ausnimmt. 

Die Frage jedoch nach dem Demonstrationsgehalt des sozialen Kunstwerks nachdem historischen Einbruch des Neoliberalismus in die Kunst, lässt sich mit der Augenscheinlichkeit eines Fingerzeigs8 beantworten. Der aufgezeigte Betrachter ist ins Werk vorgerückt und verbessert sich zunächst durch seine Aktivierung und dann durch kreative Anpassung. Aller Tendenz zum Trotz bleibt jedoch ganz grundsätzlich immer die Frage, auf wen das Kunstwerk zeigt, bzw. wohin es zeigt. Zeigt es auf den Betrachter und stellt es sich ihm immer noch als Gegenentwurf zur Wirklichkeit gegenüber? Verweist es aus seiner Realität ins Außen, welches es mit seiner Realität anklagt ? Ist es gar - statt Gegenwelt - doch nur selbstgenügsam atmende, durch Menschenhand nicht gestaltbarer Weltgeist ? Oder befinden wir uns eben in einem Parralleluniversum der Kunst, jenseits von gut und böse? Krümmt sich der Zeigefinger der Kunst lockend, um den Betrachter in die Falle zu locken, in ein Paralleluniversum, das sich gegen die Außenwelt dergestalt abschottet, dass sie deren Existenz verneint ? Lockt es nicht eben mit der Option der Gestaltbarkeit der Welt, welche es als Fazit verneint, wenn es das Individuum als potenziell nicht wettbewerbsfähig aufzeigt?


Für das Verhältnis zwischen Betrachter und Werk scheint ausschlaggebend, ob das Werk sich jeweils in seiner Didaktik oder in seiner Künstlichkeit zu erkennen gibt. Verschleiert es seine Künstlichkeit, so tappt man in die Falle, ganz gleich wie freiwillig dieser Akt ist, beziehungsweise wie benevolent der Betrachter sich der Täuschung ergibt. Dabei gilt: die Didaktik kann die Künstlichkeit überflügeln und umgekehrt. Die Frage stellt sich, ob der Charakter des Kunstwerkes per se der einer Falle ist. Die Künstlichkeit ist die Falle, die Lehrhaftigkeit der Köder. Umgedreht, kann die Künstlichkeit der Köder sein und das Versprechen einer Lehre die Falle. Wie auch immer, prinzipiell wird das didaktische Werk sich zu erkennen geben müssen, will es seinen erzieherischen Wert nicht verspielen. Sonst handelte es sich bei ihr schlechtenfalls nur um Erbauung. Bäumt das Werk sich nicht zum Antagonismus auf, erhält es die Täuschung aufrecht, so wird es nicht vermögen, einen erzieherischen Wert zu entfalten.

Streckt sich also ermahnend der Finger aus dem Gemälde, wie in einer Karikatur von Ad Reinhard von 19469, in der die unmittelbare künstlerische Hermetik des Kunstwerks den wenig wohlwollenden Betrachter spöttisch ausrufen lässt : « Ha, ha ! What does this represent ? » und das Bild auf einmal humanoide Gesichtszüge bekommt, auf den Spötter zeigt und fragt : « What do you represent ? ». Die Kunst zeigt auf den Betrachter und reklamiert den Unterschied zwischen sich selbst und dem Betrachter. Die Rhetorik des Kunstwerks liegt frei. Der Betrachter muss sich ihr stellen. Ist die Rollenverteilung diffus, womit sie übrigens schon wieder neoliberaler Führungstechnik entspricht, so können zweierlei Dinge passieren. Entweder der Betrachter wird zum Künstler oder zum Werkstoff. Wird dem Betrachter Co-Autorenschaft zugebilligt, so muss im Einzelfall entschieden werden, in welcher Weise dieses Verhältnis im einzelnen ein gleichberechtigtes ist.

Mit der Symbolik der hierarchischen Verflachung und vermeintlicher Mitbestimmung wird aber, unter Zuhilfenahme also von Bindungsstrategien des Toyotismus, der Betrachter in ein geradezu ausbeuterisches Rezeptionsschema gezwungen. Seine unentgeltliche Mitarbeit wird gebraucht. Oder schlimmer noch, wenn wir an die horrend gestiegenen Eintrittspreise in Kunstinstitutionen denken, auch noch die Bereitschaft, für diese Arbeit zu bezahlen, ohne dass daraus ein konkreter Nutzen für den Kunstliebhaber zu erwarten wäre. Dabei ist die « ästhetische Erfahrung » und der « Sense of community », noch das Magerste, was hier mitgenommen wird. Die ästhetischen Qualitäten partizipativer Kunstwerke halten sich ja bekanntermaßen in Grenzen. Das Versprechen der Mitbestimmung ersetzt eine erforderliche Kongenialität der Rezeption. Diese jedoch würde ja eine Genialität des Werks erfordern. Kann aber ein unfertiges, noch zu aktivierendes Werk diese besitzen ?

Sagen wir also, es ginge im sozialen Kunstwerk um die soziale Erfahrung der Begegnung und der Mitgestaltung. Warum sollte man diese in die Kunst verschieben ? Die hiermit beantworteten gesellschaftlichen Defizite, nämlich Vereinzelung und Mangel an Demokratie, sind Teil eines Erbauungs-Pakets. Die Ethisierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, kennt zwei Wege. Den einer Obrigkeit, die sich betont bürgernah gibt und kollektiven Mitbestimmungsgefühlen bis zum Populismus hin Ausdruck verleiht. Oder den der Selbstorganisation, die durchaus oppositionellen Ursprungs sein kann, aber der Konstitution des Neoliberalismus in dem Punkte entspricht, mit Privatinitiative und dem bürgerlichem Engagement auf die sozialen Probleme, die sich aus Deregulierung und dem Abbau des Sozialstaats ergeben, zu reagieren. So verhüllt das Soziale sein Verschwinden in einem Brokatmantel mit einem Dekor von Gesellschaftsszenen.

Ist zwischen Chefs und Angestellten, Herrschenden und Beherrschten, Diskursgebern und -nehmern, und natürlich zwischen Künstlern und Betrachtern nur noch schwer zu unterscheiden, mulitplizieren sich Manipulationsmöglichkeiten und Verwirrung. „

1Jack Finney: The Body Snatchers, Dell Publishing, New York, 1955.
2Vgl. Durkheim
3Jacques Rancière: Demokratie und Postdemokratie. In: Alain Badiou et al.: Politik der Wahrheit. 1997. S. 94–122. 
4Der Dreizehnrekordhalter, Rezension von Peter Sloterdijks Du mußt Dein Leben ändern,
Andreas Platthaus in der FAZ vom 23. März 2009
5Siehe : Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1986, siehe auch Claire Bishop
6Vgl. Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, S. 14 ff.
7Ralf Ptak, Grundlagen des Neoliberalismus, in: Butterwegge, Lösch, Ptak Kritik des Neoliberalismus, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2007, S.53 ff.
8Claude Gandelman, Der Gestus des Zeigens, in : Der Betrachter ist im Bild, Hg. Wolfgang Kemp, D. Reimer Verlag, Berlin 1992, S.71 ff.
9Ad Reinhard, How to look at modern art in America, PM, New York City, 1946
Eran Schaerf erhält Käthe Kollwitz Preis
(unveröffentlicht)

Der seit 1985 in Berlin ansässige israelische Künstler erhielt am 20. September die mit 12.000,- Euro
dotierte Auszeichnung. Nach längerer Zeit ging der Käthe Kollwitz-Preis somit wieder an eine künstlerische Position mit politischem Gehalt. Im Zentrum von Eran Schaerfs konzeptuelle Arbeit steht die Auslotung sozio-kultureller Konstrukte. In verschiedenen Medien reagiert er künstlerisch auf aktuelle Fragestellungen einer sich täglich offenbarenden visuellen, sprachlichen und performativen Kultur des Politischen. Mit der Entscheidung der Jury fiel die Wahl nicht nur auf eine in Künstlerkreisen ungemein einflussreiche Position, sondern man besann sich auch auf die Namensgeberin Käthe Kollwitz und ihre politische Kunst. Die Jury würdigte ein Werk, das - nach eigenen Worten - in großer Distanz zu einer Kunst stehe, die sich allzu bereitwillig von den Agenturen ihrer Vermittlung abhängig gemacht habe. Dabei sei die Vermittlung selbst ein zentrales Thema in Eran Schaerfs Arbeit.
Eran Schaerfs Arbeiten sind Materialsammlungen und Anordnungen aus Foto, Text, Video, gesprochenem Wort, Objekt und Display. Sie sind Versuchsanordnungen, ohne abschließendes Ergebnis, in denen sich die Betrachter Inhalte auch erarbeiten müssen. Seine Autorenrolle, so Schaerf, sei keine strenge. Mit der Offenheit des Werks ist auch ein Teil der Autorenrolle in Umlauf gebracht. Bilder, Sprachfetzen, Objekte, Relikte stehen zu Aufnahme und Bearbeitung bereit. Neue Bilder zu  schaffen, interessiere den Künstler indes wenig. Davon, so Schaerf, gebe es bereits genug. Mit dem sogenannten Visual Turn behaupten Bildwissenschaftler eine Autonomie des Bildes. Mit ungeahntem Eigenleben ausgestattet, soll es Diskurse ersetzen, Fakten schaffen. Wo einst Politik war, stehe das mediale Bild und installiere seine ihm eigene Herrschaftsform. Eran Schaerf misstraut jedoch diesem Konstrukt und verweist auf die Kontextualität eines jeden Bildes. Keines stehe nur für sich und immer rankte sich Sprache um das Bild. Hieraus bilden sich Kontexte. Diese können sich verschieben und dabei sowohl Verständlichkeit wie Glaubwürdigkeit einbüßen. Wie vielfältig, gar paradox diese Bedeutungsebenen sein können, zeigt Scharf anhand von Diashows, Hörstücken und Videoarbeiten, in denen Bilder, anhand der vielfachen über sie kursierenden Interpretationen, Übersetzungen und Bildunterschriften, die Verlässlichkeit ihres Informationsgehaltes preisgeben. Die Instrumentalität des Bildes ist untrennbarer Bestandteil von Bildpolitik. Seit je her ist sie ein Charakteristikum von Propaganda.

Spielt man die verschiedenen, widersprüchlichen Aufladungen des Bildes gegeneinander aus, wie Eran Schaerf es in seinen Arbeiten tut, so entsteht zunächst Zweifel. Folgend werden die Betrachter aus diesem Zweifel in eine Lage versetzt, in der sie die Bildanalyse nicht dem Künstler oder gar den Medien allein überlassen können. Selbstgenügsame Rezeptivität und Mediengläubigkeit kann es hier nicht geben. Dabei ist es gerade der Akt des Aufzeigen von Material, der zur Befragung von politischen Inszenierungen auf ihre visuelle Kultur dient. Found Footage, original oder inszeniert, verweist bei Schaerf auf die neuerlichen Aufführungspraktiken von Protestkulturen. Wo es im alten Disziplinarstaat den Protestbewegungen nur widerfuhr, anhand von Bildern Politik zu machen oder Ikonen der Protestbewegungen zu erschaffen, arbeiten sie im Zeitalter von Facebook, Twitter und Youtube direkt auf das Bildereignis hin. Doch ist die Deregulierung der Bilderregimes auch demokratisch? Findet Politik in und mit Bildern überhaupt statt oder ersetzten sie demokratische Prozesse ? Die bereits von Jean Beaudrillard lamentierte Agonie des Realen durchzieht dabei längst nicht mehr die Oberstübchen der Bild-Dichter und Bild-Denker, der protestierenden Massen, der Bildproduzenten und -konsumenten. 

Aber ist die Faktizität, die wir Bildern nunmehr aufgrund ihres medialen Eigenlebens zusprechen nicht eine Täuschung über die Möglichkeit von Realität innerhalb der Bilder ? Diese interessanten Fragen weiß Schaerf zwar nicht zu beantworten, wohl aber zu stellen. Dabei geht es nicht um gelenktes Denken. Schaerfs lautes Nachdenken macht den Betrachter zum Mitdenker. Warum - fragt man sich - zeigen sich beispielsweise palästinensische Aktivisten in Hebron beim Obama-Besuch in den Westbanks mit Fotos von Rosa Parks, der Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung?

Kontextverschiebungen lassen neue Identitäten erstehen und Vertrautes positioniert sich neu. Entliehene Geschichte und Geschichten verdichten sich hier nicht zur Einheit. Gerade in ihrer Aufsplittung erzeugen sie Ahnungen von der Komplexität eines Bildes, sei es ein Stück aus den Medien, ein Kunstwerk oder Inszenierung einer kreativ gewordenen Protestkultur.

Preis der Nationalgalerie

Von Diego Castro
23.09.2013
ND-Feuilleton

Gegen die Standards

Preis der Nationalgalerie

Der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2013 ging an Mariana Castillo Deball. Die
fünfköpfige Jury wählte aus vier vorgeschlagenen Kandidaten die in Berlin lebende Künstlerin aus.
Geboren 1975 in Mexico City, arbeitet die in bildender Kunst und Philosophie ausgebildete Castillo
Deball genreübergreifend zum Thema Mexiko. Anlehnend an einen Essay von Octavio Paz, beruht
die Thematik aber nicht auf einem schlichten mexikanischen Nationalismus, sondern vielmehr auf
dem Bewusstwerdungsprozess einer postkolonialen Kultur. Vor diesem Hintergrund soll aber
weniger eine abgehandelte Identitätskrise befragt werden. Castillo Deball verortet die bereits
historische Krise in ihren Repräsentationsformen.
Im Hamburger Bahnhof installierte sie einen raumfüllenden, begehbaren Holzschnittstock, der eine
fiktionalisierte Geografie aus der Zeit der Konquistadoren zeigt. Darauf indianisch anmutende
Kostüme und andere Exponate. Die Künstlerin verweist auf museale, anthropologische und
kunsthistorische Kulturtechniken, die sich mit der Repräsentation einer mexikanischen Kultur
befassen. Dabei paraphrasiert der oftmals frei assoziative Umgang der Künstlerin mit
archäologischen und ethnologischen Artefakten oder historischen Quellen den fiktionalen Gehalt so
mancher Ausstellungsinszenierungen. Ihre Arbeit zeugt jedoch weniger vom Aufklärungswillen der
Institutionskritik, als vielmehr von künstlerischem Selbstbewusstsein. Castillo Deball trotzt mit
ihrer Arbeit dominanten wissenschaftlichen Standards und kratzt an gegebener Deutungshoheit.
Erstmals war die Auszeichnung in diesem Jahr nicht mit einer Preissumme verbunden. Die
ursprünglich mit 100 000 Euro ausgestattete Ehrung, seither mit stetig schrumpfenden Budget, baut
zur Unterstreichung ihrer Relevanz nicht mehr auf Jackpot-Effekte, sondern vertraut ganz auf die
eigene instituierende Kraft. Der Preis besteht fortan aus einer Einzelausstellung in einem der Häuser
der Nationalgalerie. Dies sei die größere Wertschätzung, so Udo Kittelmann, Direktor der
Nationalgalerie. In der Neuausrichtung des Preises sieht er letztlich eine Optimierung, aus der
vielleicht ein neues Selbstbewusstsein der Institutionen gegenüber einem allzu flüchtig gewordenen
Kunstmarkt spricht. Der Preis für junge Filmkunst ging ebenfalls an einen Mexikaner, den in
Hamburg lebenden Dokumentarfilmer Victor Orozco Ramirez.
Bis 12. Januar, Hamburger Bahnhof, Berlin