Mittwoch, 19. August 2009

KUNST UND VOLKSEMPFINDEN

Der folgende Text erscheint auch in der bald erscheinenden ersten Nummer von "Kunst und Volksempfinden", sowie im Jahrbuch des Künstlerhauses Schloss Balmoral und ist demnächst im Buchhandel erhältlich. Es handelt sich um eine erweiterte Version des Vortrags, den ich letztes Jahr unter teilweise heftigem Protest des Publikums (aber auch einiger Zustimmung) in der Mainzer Kunsthalle gehalten habe. Hier geht es um Erfolg, und Misserfolg Sozialistischen und Kapitalistischen Realismus, die (Neue) Leipziger Schule, the Bernadette Foundation und vieles mehr aus der Sicht von...Junkies!.

Stoffarmut!

oder: ...alle Wege führen nach Bitterfeld
von Diego Castro

Wenn wir die dialektische Frage „Was ist künstlerischer Erfolg“ abseits schnöder monetärer Kalkulation und abseits einer den Egozentriker beglückenden Art von positiver Verstärkung erörtern, könnte eine Antwort lauten: „Künstlerischer Erfolg ist eine maximale Expansion von unabhängigem kritisch-künstlerischem Denken als öffentliche Diskussion innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Narration, die der Gesellschaftskritiker als wahrhaftigen Fortschritt bezeichnen könnte.“ Mit anderen Worten: Je mehr Kunst als kritischer Block Bestandteil eines gesellschaftlichen Dialoges ist, je mehr sie gesellschaftliche Impulse auszulösen vermag, selbstreinigende Kräfte mobilisiert – selbst wenn ihr nichts weiter gelingt, als den Unmut des konservativ- affirmationistischen Boulevards auf sich zu ziehen – desto mehr könnte man ihr Wirken als erfolgreich in unserem Sinne bezeichnen. Auch die Subversion des Kunstmarktes, und sei sie auch noch so plump, ist für uns mehr als Erfolg: Sie bedeutet Triumph! Allerdings ist alles Jubilieren hier allenthalben die Freude über einen kleinen Treffer auf dem Schützenfest oder hämisches Gelächter, das auf ein Tortenattentat folgt. Wir sagen Euch: Dass revolutionäre Kunst nicht Mittel zur Revolution ist, sondern nur Symptom derselben sein kann, aber nicht muss, ist uns klar. Unser Problem heißt: Keiner hört uns zu und wenn es einem doch widerfährt, dann vermutet dieser ein Spiel, oder noch schlimmer: einen Scherz! Ist das vielleicht unsere Schuld?

Ein trauriges Kapitel

Mythischen Experimenten, privater Biedermeierei oder verklärt-verschwiegener Melancholie, die bis zur egomanischen Schnöseligkeit geht, gelingt es im Moment viel eher, öffentliches Interesse auf sich zu ziehen. Das resultiert nicht zuletzt aus dem monopolistischen, konservativem Vorstoß der bürgerlichen Medien, die im Zusammenhang mit einem seit den frühen 90er-Jahren bis heute zunehmend technokratisch-konservativen, anti-avantgardistisch ausgerichtetem Markt (einschließlich seines Einflusses auf die staatlichen und halbstaatlichen Institutionen) einen reaktionären und sehr einflussreichen kulturindustriellen Komplex bildet. Dieser Komplex verteidigt und forciert mit nicht zu unterschätzender Vehemenz das eigene Interesse, welches – täuschen wir uns nicht – keineswegs rein kommerzieller Natur ist. Das neoliberale Dogma, welches Kritisches und Anstößiges, so denn es dem Profit diene, gewähren lässt, stößt hier an Grenzen: Inhaltlich wird einer gesellschaftlichen Mission der Weg geebnet, die bedeutet: Neokonservatismus, der sich bezahlt macht. Durch eine Kombination von teils gefälliger Formensprache, teils produzierter, kontrollierter, substitutiver, delegierter und somit unterdrückerischer Wildheit versucht die neokonservative Reaktion ihre Produkte zu platzieren, mehr noch: die richtige Stimmung zur richtigen Aufnahme des ideologisch gefärbten Produktes zu schaffen.

Da es sich bei der Kunst um ein besonderes kulturelles Erzeugnis handelt, nämlich um eines, dass die Kultur als sein wertvollstes Derivat hervorbringt, muss die Kontrolle dieses Hervorbringungsprozesses sehr weit greifen. Ironischerweise nennt sich ein sehr erfolgreiches, junges Presseorgan dieser neokonservativen und gleichzeitig neoliberalen Haltung Monopol. Konservativ deshalb, weil sich das Medium trotz scheinbar progressiver, allerdings technokratischer, Trendsetterei für besonders unkritische und auch formal konservative künstlerische Positionen auf ultra-personalisierter People-Ebene stark macht. Dieses dient ein weiteres Mal dazu, der selbst gewählten Vorreiterstellung im postfordistisch organisierten Produktionsapparat gerecht werden zu können. So wird die Verhandlung der Style-Frage unter Trendsettern durch ihr vorhersagbares, elitäres Ergebnis auch zur Klassenfrage. Es geht hier darum, den Diskurs einer sozial relativ mobilen bürgerlichen Oberschülerschicht zu affirmieren, was bedeutet: Klassenmässige Abschottung durch eine Performanz der Permeabilität. Kürzer: Monopol ist das Fachblatt für den Habitus der Generation Golf.

Es verspricht die gespaltene Zunge des Neoliberalismus Chancengleichheit, Partizipation und Demokratisierung, und verkauft in der Sprache des Sozialisten, des Individualisten, des Utopisten, des Radikaldemokraten oder des Anarchisten, ein System individueller Freiheiten. Hiervon sollen jene Predatoren profitieren, die im marktradikal zugespitzten Sozialdarwinismus, aufgrund ihrer guten Erbanlagen ruhig schlafen können. Auf alle anderen fällt das Leistungprinzip als Heimsuchung zurück: Sie haben es nicht geschafft, Pech gehabt!

Auf den zweiten Blick macht dieser Widerspruch also durchaus Sinn: Zunächst scheint der Mythos einer enthierarchisierten und demokratisierten Kultur der Existenz realer struktureller Ungleichheiten zu widersprechen. Als Beispiel sei hier nur das Bildungsniveau als Indikator stratifikatorischer Rigidität genannt, die Adornos und Horkheimers These, dass die Kulturindustrie ihre Konsumenten immerwährend um das betrüge, was sie immerwährend verspreche, zu bestätigen scheint. Ebenso verhält es sich in diesem Zusammenhang mit der Gewährung relativer Freiheiten. Die Auflösung rigid-konservativer Formstrenge beinhaltet ja nicht zwingend die Aufhebung konservativer Inhalte oder gar die Auflösung der institutionellen Repression. Die hier stattfindende repressive Entsublimisierung dient mehr denn je dem Projekt ökonomischer und institutioneller Steuerung und Kontrolle.
Das gebrochene Versprechen der neoliberalen „Kulturrevolution“ wirkt natürlich systembestärkend: Die Ungleichheit wird scheinbar bekämpft, das System kann nicht mehr der Ungerechtigkeit bezichtigt werden, der ungleich Behandelte ist der Selektion ausgeliefert: Entweder als Fett oben mitschwimmen oder untergehen.
Die eben angedeutete aus dem inneren Kreis der Frankfurter Schule stammende Analyse der Kulturindustrie als Formation eines dem Fordismus in seiner Entwicklung hinterherhinkenden Produktionsbereichs, der lediglich danach trachten würde, die angeblich fortgeschrittenen Produktionsweisen Taylors und Fords zu reproduzieren, dieser Analyse also entgegnet die postoperaistische Sichtweise, dass die Kulturindustrie im Gegenteil die neuere post-fordistische Produktionsweise ideell, strukturell und praktisch antizipiert. Zentral für diese mittlerweile weit verbreitete Produktionsweise seien informelle Strukturen in zeitlichen, räumlichen und hierarchischen Abgrenzungen, die wir vorhin als „relative Freiheiten“ angesprochen haben. Diese setzen sich zusammen aus einer Offenheit für Improvisationen bzw. unvorhergesehene Effekte sowie der Flexibilisierung traditioneller Arbeitsteilung. Beispiel: verflachte Hierarchien als strukturelle Maßnahme vorgeblicher Selbstbestimmung. Kritik innerhalb dieser Strukturen wird keinesfalls mit Repressalien geahndet, sondern ist konsekutiv ein konstruktiver Bestandteil eines auf ständige Erneuerung zielenden, zukunftsorientierten und exklusionistisch-repressiven Produktionsapparats. Hieraus ergibt sich auch die Attraktivität des Künstlerberufs und seiner individualistisch-chaotischen Produktionsweisen für die Vertreter der Wirtschaft. Die Rolle der kritischen Kunst ist in dieser Relation zwiespältig. Wird diese toleriert, so könnte man mit Adorno und Horkheimer vermuten: „Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu, wie Bodenreformer zum Kapitalismus.“ Diesem Dilemma ist zum Beispiel die kritische Kunst eines Thomas Hirschhorn ausgesetzt, die – trotz aller Widerständigkeit – dergestalt integrierbar bleibt, dass sie dazu dient, die Fortschrittlichkeit der Schweiz zu repräsentieren. Dass das nicht immer gelingt ist eindeutiges Qualitätsmerkmal in Hirschhorns Werk, sagt aber mehr über den dahinter stehenden kulturellen Mechanismus aus als über Hirschhorns Werk. So dient auch kritische Kunst der Steigerung institutioneller Kredibilität und untersteht einem repressiv-toleranten Integrationismus. Wichtiger erscheinen jedoch in Zeiten staatlichen Rückzugs aus sozialen und kulturellen Verantwortungen die Rolle und die Konditionen der Kunst in einer zunehmend von Unternehmensphilosophien und unternehmerischem Geist bestimmten kulturellen Landschaft.
Kommen wir aber von der Kontemplation über die unkritisch-kommerzielle Erfolgsmaschinerie zur ursprünglichen Frage des Erfolges zurück, so treffen wir nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der „Monopolisten“ unweigerlich auf die Erfolgsstory der deutschen Kunst der Nachwendezeit schlechthin: der neuen Leipziger Schule. Ich fände es richtig, diese Strömung, trotz aller angeblichen oder auch offensichtlichen formalen Differenzierungsmöglichkeiten, durchaus als veritable Kunstrichtung im ideologischen Sinne zu betrachten. Der Erfolg der Leipziger ist ja sehr leicht zu beschreiben. Gepuscht oder lanciert von cleveren Galeristen traf hier eine der Leipziger Schule entstammende Künstlergeneration auf eine sehr interessierte amerikanische Jäger- und Sammlerszene, was wiederum aufgrund des hieraus entstehenden überwältigenden Erfolges die Presse, Museen und Kulturpolitik interessierte und einmal mehr beweist, dass nur Erfolg im kapitalistischen System der Schlüssel zu (mehr) Erfolg ist. Was die amerikanischen Sammler mittlerweile fast schon traditionell an der deutschen Malerei interessiert, ist die Befriedigung eines Fetischismus für Historienmalerei und eines gewissen Doom-Faktors, durchaus vergleichbar mit dem amerikanischen Erfolg der deutschen Band Rammstein oder der obsessiven Darstellung des Deutschen als Nazi-Schergen in Hollywood-Filmen oder dem Erfolg des düsteren Nationalgrufties Anselm Kiefer in den Achzigern. Zeitgenosse Jonathan Meese hat glücklicherweise den irrsinnigen Humor und die Oberflächlichkeit solcher zardozianischer National- und Totalitärmythologie mit dem gebührenden Unernst auch auf den amerikanischen Markt geworfen, und man dankt es ihm mit unbekümmerten Ankäufen, die nichts anderes sind als ein Ausdruck von Unwissen, wobei man sich streiten kann, ob das Wissen oder aber das Unwissen über Meeses selbsterteilten verzweifelten Auftrag der Entmythisierung ursächlich für seinen Erfolg sei.

Wer sich mit solchen Fragen nicht beschäftigen mag, sondern einfach nur die deutsche Wertarbeit (oder zumindest das, was noch so tut als ob) liebt, der stürzt sich nun mit ähnlichem Fetischismus auf die etwas jüngere deutsche Vergangenheit stalinistischen Staatsterrors und realsozialistischer, kontrollstaatlicher Stasimanie. Dass dabei die Inhaltlichkeit auf der Strecke bleibt und hier die Abwesenheit von Geschichte herrscht, von Geschichten, von Menschen und von Gesellschaft, wird billigend (aber teuer) in Kauf genommen. Das ererbte historische Vokabular (sprich: Historienmalerei), dass sich von seinen Bedeutungen abgelöst zu haben scheint, stand in seiner Blösse der Begeisterung der amerikanischen Sammler ebenso wenig im Weg, wie der lange Zeit herrschenden Jubellaune der Kulturberichterstattung und der nach “endlich-wieder” Malerei lechzenden Museumsdirektoren.

Der lange Marsch durch die Institutionen, oder: Zeittotschläger

Wir leben in einer Zeit der Überschreibung inhaltlicher Diskurse von der Kunst auf die Institutionen. Das heißt, das Thema findet nicht mehr im Werk (z. B. auf Leinwand) statt, sondern wird kontextuell durch den Curator’s Digest in Katalogform, Besucherführung oder auf DIN A4 Zetteln hergestellt. In solchen Zeiten erscheint es nur konsequent, die Kunstdiskurse von den vor der Macht kuschenden Künstlern auf die stärkeren Institutionen zu überschreiben. Ein Gang durch die Sammlungen dieser tristen, malerischen Manifestationen künstlerischer Aporie erscheint denn auch wie ein Spaziergang durch die abgewickelten Industriebrachen von Bitterfeld. Ich zitiere Hanns Werner Schmidt, Direktor der Leipziger Kunsthalle: „Obwohl die Bilder großteils in Gegenständlichkeit ausformuliert sind, bleibt das Innerste, das sie zusammenhält, abstrakt. [...] Es sind Stimmungsbilder, die eine melancholische Gelassenheit im Status quo zeigen“.

Ich schließe mich seiner Meinung an, wenn Schmidt behauptet, das Innerste bleibe abstrakt. „Abstrakt“ als Unfähigkeit, die Vorherrschende innere Leere mehr als nur zu formalisieren, sondern auch herleiten zu können und der aus dieser Herleitung unweigerlich resultierenden Politisierung ihre narrative Kraft zu gewähren. Richtig ist folglich, dass es sich hierbei um Stimmungsbilder handelt. Gefragt wird aber nicht: „Warum [Grafiker: Bitte kursiv hervorheben!] geht es mir so dreckig?“
Kommen wir aber zum eigentlichen Kern der Aussage: „Es sind Stimmungsbilder, die eine Gelassenheit im Status quo zeigen“. Gelassenheit? Ein schwammiger Ausdruck! Gelassenheit im Sinne von Affirmation, Ignoranz oder gelähmter Depression? Oder ist das vielleicht schon zu weit gedacht? Vielleicht geht es noch oberflächlicher: „Mir geht’s nicht gut.“ Punkt. Geschichte ist. Punkt. Ende der Fahnenstange. Also weder: Die Geschichte ist vorbei, mal gewesen, vielleicht immer noch da, oder aber Geschichte wird gemacht. Nein, es ist Atempause. Der Hauch der Geschichte hält inne und saugt weder ein noch aus. Er ist nur noch durch seinen leicht fauligen Mundgeruch bemerkbar. Indes steht der Maler an einem verregneten Tag an einer stillgelegten Bushaltestelle im Osten der Republik und wartet traurig.
Aber selbst wenn er die Angst überwände, ein geschichtlich-verbindliches Statement von sich zu geben; selbst wenn er sich zur Abwechslung mal nicht dem universalistischen, zu allem kompatiblen, absatzorientierten Utilitarismus der marktmäßigen Kunst unterstellen würde und nun sagte: Geschichte wird gemacht, z. B. von denen, die über sie schreiben, bzw. malen, selbst wenn man all das also überwände, bliebe man hier doch in der archivarischen Ruhe der geschichtlichen Klamottenkiste gefangen. Weil es nicht anders gewollt wird. Weil die Idee, künstlerisch etwas zu fordern, im Paradies verpönt ist. Weil da etwas aus Ruinen auferstanden ist, das aussieht wie Guido Knopp und mit der blechernen Stimme Adenauers ruft „Wir wählen die Freiheit!“, während sportliche Fanfaren erklingen und HP-Baxxter das Land leer shoutet. Weil Gerhard Schröder Kultur zur Chefsache erklärt hatte. Weil Guido Westerwelle Sammler ostdeutscher Malerei ist. Weil man sich vor Angst in die Hosen scheißt bei dem Gedanken, Guidos Spaßmobil könnte irgendwann mal vorbeisausen ohne anzuhalten, so wie der ICE bei Bitterfeld, wo man bitte nicht aus dem Fenster sehen sollte.
Helmut Kohl war kein Lügner. Helmut war Gott. Und sein Volk sprach: „Wir wollen die Mark“ Und der Gott sprach: So und so viel! Und damit müsse sich der Erdenmensch-Ost jetzt zufrieden geben. Und er könne sich nicht beklagen. Dieser gerettete Mensch verfällt nun, da er alles Schöne vom Himmel erhalten habe, und alles Schlechte verloren, in eine merkwürdige grauschleierige, vermalte Melancholie. Helmut Schmidt und viele andere Wessis werden nicht müde zu sagen, sie könnten diese neue Ostalgie nicht verstehen. Sie können nicht verstehen, dass man auch in der DDR eine schöne Kindheit haben konnte. Aber zum Glück kann man das, was man in Talkshows nicht sagen darf, wenigstens malen. Und zum Glück können die Männer des Westens diese unverstandenen Schwelgereien kaufen.
Aus den neuen Bundesländern, in denen harte und härteste soziale Realitäten das Leben der Menschen beherrschen, wo Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit ein Klima der Resignation und demokratiefeindliche Ressentiments schaffen, die Nährboden für Rechtsradikalismus und Fremdenverfolgung sind, gerade von hier kommt eine Kunst, die sich mit der unmittelbaren Realität vor den Atelierwänden kaum befasst. Stattdessen blicken wir auf die vor Phantasie blühenden Landschaften von Neo Rauch, weltfremden Surrealismuskitsch von Tilo Baumgärtel oder die oberflächenhaften Architekturmalereien David Schnells oder Eberhard Havekosts.
Ein wichtiger Grund für die Weltflucht in jenseitige Bewusstseinsebenen oder schlichtweg in surreal-quatschige Phantasiewelten war natürlich die staatliche Realismus-Doktrin in den realsozialistischen Ländern. Der hier vorgefundene, sehr spezifische und zu damaliger Zeit an sehr vielen Kunsthochschulen des Ostblocks praktizierte Ost-Surrealismus, in dem der Künstler auf dem Regenbogen spazieren geht, Frauen im Inneren von Seifenblasen in Embryonalstellung kauern und Pferde frei und high alle nach Bitterfeld führenden Wege zertrampeln, möglichst ohne Staub aufzuwirbeln, war natürlich ein Ausdruck bürgerlicher Revolte und bekam Sinn durch die äußeren Zustände des totalitären Ostens, durch seine Zensur, seine Dissidentenverfolgung, die bigotten Inszenierungen selbstzerfleischerischer Selbstkritik im Namen des dialektischen Materialismus, kontrollstaatlichen Bespitzelungs- und Überwachungswahn und nicht zuletzt durch politischen Knast. Der Realismus, der aus der Formalismusdebatte hervorgehen sollte, war mitunter auch Verhandlungsbasis in einer Diskussion um die Legitimität der surrealistischen Form. Nicht selten ging diese zu Ungnade des Künstlers aus, wie im Falle eines Manfred Kastner, und nicht selten waren hier kosmische Landschaften mehr oder minder verschlüsselte Republikfluchtsphantasien im surrealistischen Schlafrock. Dies war durchaus eine Art dissidentischer Geheimcode, der sich nicht nur in der Kunst, sondern durchaus auch in den magisch-versponnen Texten von DDR-Rockbands der 70er- und 80er-Jahre manifestierte. Wer sich heute das Album Schwanenkönig von Karat anhört, wird sofort verstehen, was ich meine. Dass sich neben dem staatskünstlichen Formenrepertoire auch diese trotz allem Kitsch und trotz aller Verschlafenheit als dissidentisch einzustufenden Kulturversatzstücke als Gespenst in der Gegenwartskunst der Ex-DDR halten, ist nach dem Zusammenbruch des Sozialismus mehr als verwunderlich, zumal hier die geschichtliche Fracht scheinbar nur noch formalisiert und nicht verhandelt wird.
Man hätte hoffen können, dass die solange geknebelte Kunst, nach der Entfesselung eine Schnauze hätte entwickeln können, vor der selbst Biermann vor Neid erblasst wäre.
Wo nicht nur die Freiheit zu pro-westlichen – ja sagen wir es ruhig – kapitalistischen Diskursen vorliegt, sondern diese mit offenen Armen empfangen wurden, so wie man eine Dampfwalze in die Arme schliesst, ist die Abwesenheit von konkreten Statements zunächst vielleicht frappierend. Die Logik, die hierin liegt, erschließt sich vielleicht, wenn man davon ausgeht, dass das herrschende gesellschaftliche Medium im Realsozialismus die Sprache, genauer gesagt, der dialektische Materialismus war, während das Medium im Kapitalismus die Ökonomie ist, also die Unterteilung von allem in Erfolg oder Misserfolg. Dass die märchenhafte Verzauberung dem Spektakel näher steht als der Dialektik, brauche ich hier wohl nicht weiter zu erläutern. Der Untergang der DDR brachte dieses Vokabular zu gesamtgesellschaftlicher Dialektik zum Verschwinden. Was blieb, waren die Märchen.

Der Plattenbau war revolutionär. Die Plattenbaumalerei nicht.

Dass im Lager der Plattenbaumaler sich der modernistische Funktionalismus dem Ornament anheim gibt, spricht ebenfalls Bände und scheint wie die gelebte Umkehrung von Adolf Loos’ Ausspruch: „Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ.“ Aber seien wir nicht ungerecht: Die Wahrheit ist, dass da, wo der Bitterfelder Weg zum Trampelpfad wurde und wo heute nur noch Gras drüber wächst (es heißt ja, die Natur hole sich die verlassenen Städte allmählich zurück), dass also hier Efeu über die abgewickelten Industrieanlagen rankt wie über die historischen Versatzstücke ostdeutscher Identität auf den Leinwänden der Hofmaler, der Kriegsgewinnler, der Treuhandanstältler und der Boys von der Ivy League. Die Preisfrage lautet: Für wen malen die Ossis? Oder fallen Ihnen vielleicht namhafte ostdeutsche Sammler zeitgenössischer Malerei ein? Na also!
Aber lassen Sie uns weiter darüber sinnieren, wie es zu derartiger Stoffarmut kommen konnte. Die Gründe dafür nur psychologisierend oder soziologisierend in der Abwicklung und allgemeinen Verarschung des Ostens durch den Westen zu suchen, wäre ebenso unvollständig wie falsch: Im Osten begegnet man der Problematik des kapitalistischen Produktionsethos immer noch stolz – weil noch nicht von Randstadt geschluckt – nach Hausmacher-Art mit Palette und Pinsel und ist bei so vielen Überstunden im Atelier froh, die Diskursarbeit in die treuen Hände findiger Galeristen und gewiefter Ausstellungsmacher geben zu können.
Im Westen hingegen lebt man schon lange vor, wie moderne Arbeitsteilung auszusehen hat: Die auf die Ermattung nach hilflosen Selbstpräkarisierung-als-Kunstform-Projekten der 90er folgende Aporie, geboren aus der zunächst zerstörerischen, dann aber entspannenden Erfahrung, gegen die Windmühlen des Kapitalismus doch ohnmächtig zu sein (Wat’n Glück, man kann sich eh nicht mehr wehren. Erstmal Beine hoch), dieser Quell negativistischen Denkens bei gleichzeitigem affirmativem Handeln, Manifest aporistischem „Trotzdem-Tuns“, diese Ermattung, die heute Künstlergruppen wie „The Bernadette Foundation“ in ihrem blasierten Weltuntergangskunst-Chique nährt, diese ratlose, bohrende und quälende Selbstbefragung hat man hier auf den in der Regel abgebrüht, unberührt bleibenden Ausstellungsbesucher weiter delegiert. Vorbei die Zeiten, in denen man sich als Künstler noch mit der Unmöglichkeit, geschweige denn mit der Möglichkeit, die Welt verändern zu können, abgeben musste.
Die relationelle Ästhetik – mittlerweile durchaus massenkompatibler Mainstream – bietet die Lösung aller alten Probleme wie zum Beispiel die Isolation des Einzelnen im Konsumkapitalismus, die Präkarisierung des Privatlebens (und somit des Emotionalen) durch flexible Arbeitsstrukturen und so weiter als Simulation für angeblich „Alle“ zugänglich gemacht, tatsächlich aber nur für einige wenige, genauer diejenigen, die über die Produktionsmittel zur Kunstbeflissenheit verfügen.
Hier wird vorgelebt, wie man in der Instrumentalisierung und Unterordnung so etwas wie Selbstbestimmung trotzdem fühlen kann. Die Künstler, oftmals selbst Opfer prekärer Strukturen oder aber auch Erzeuger prekärer Strukturen (also Assistent sein oder Assistenten beschäftigen), haben die Frage nach dem revolutionären Potenzial von Kunst in Geringschätzung dieses Aspekts, der schließlich einmal maßgebend für die Moderne war, abgegeben. Das Publikum soll sich damit beschäftigen (gleichwohl es das sowie nicht macht). Die Kuratoren sollen sich damit beschäftigen. In dieser Form von Arbeitsteilung ging vor allen Dingen eines verloren: Die Selbstbestimmung der Künstler. Denn wer seinen eigenen Diskurs nicht bestimmt, der ist in unseren Augen nur eines: Handlanger der nächstbesten Hegemonie. Sei es die Diktatur des Betrachters, die Macht der Kuratoren oder die neoliberalen Sendungen willfähriger Sponsoren und Vereinsvorstände mit Wohnsitz zum Beispiel in Bad Homburg.

Warum aber wählt der Prekarisierte immer wieder seine eigene Unterdrückung und Ausbeutung? Dieser Übermacht stellen wir uns entgegen, wir steigen vom DSDS-Siegertreppchen und schreien es Euch Dieter Bohlens, Euch Einschaltquotisten, Euch Daniel Küblböcks, Euch vor dem Spiegel singenden und hopsenden Möchtegern-Shakiras aus der Provinz, Euch Pinselschwingern aller Länder, Euch Träumern, Euch Grauschleiern, Euch Radiohead-Hörern, Euch Shoegazern ins Gesicht, denn es ist wieder an der Zeit: Hört auf zu malen!


Was ist denn nun mit dem künstlerischer Erfolg?

Erfolg bedeutet positive Verstärkung. Gegenseitiges Stiefellecken. Erfolg bedeutet Motivation und Wiederholung. Immer wieder der selbe Müll für die Claqueure vom Dienst. Solange es sich gut verkauft... 50.000.000 Elvis Fans can’t be wrong! Vielen Dank. Thank you very much, Dankeschön! I love you! Merci! (Fifi wedelt mit dem Schwanz)
Misserfolg bedeutet Resignation. Demotivation. Abgebrochener Entzug. Auf Turkey kommen bei voller Abhängigkeit. Stoffarmut ist für den Junkie ein Problem, unter dem er sich windet, schreiend und kotzend in kalten Schweissausbrüchen, Knochenschmerzen, Verzweiflung.
Für jemand, der clean ist, ist Stoffarmut natürlich kein Problem!
Wir aber können nicht mehr. Ist ja nicht mit anzusehen. Wir gehen durch Kunsthallen, Kunstmessen, Berliner Galerien und uns kommt der kalte Schweiss. Wir stehen im Atelier und uns kommt’s vor unseren leeren Leinwänden hoch. Wir können nicht aufhören mit dem Drücken. Misserfolg: Jeder Tag ist einer. Wir bringen’s nicht mehr. Wir können keine Kunst mehr produzieren und wir können keine Kunst mehr sehen! Wir werden von Unterdrückerschweinen gezwungen, stilvoll abzukratzen! Damit wir endlich verstehen, dass wir nie eine Chance hatten.
Wir haben es uns nicht ausgesucht, in so einer verlogenen Scheisswelt Künstler sein zu wollen. Wir haben nicht Helmut, Gerhard oder Angela gewählt. Wir haben nicht die Freiheit gewählt, die Ihr gewählt habt. Wir haben keinen Erfolg und das ist auch schlecht so! Wir sind natural born Junkies. Unsere Abhängigkeit ist erblich. So, wie der Erfolg aus dem Hause von Hochwohlgeboren erblich ist. Wie konnten wie nur daran glauben, einmal cleanes Leben in white cubes führen zu können? Wie konnten wir daran glauben, dass man die Seiten so einfach wechseln kann? Während Erich Lejeune, Träger des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse, auf TV. München, in der Hauptstadt der Bewegung, beschwörend, ja geradezu hypnotisch auf die Rupert Kutzners der Welt einwirkt, ihre Architekturmalereien im ganz grossen Stil rauszubringen, versinken wir Immaterialisten stillos in unserem eigenen Dreck und setzen uns einen Druck nach dem anderen. Wenigstens leiden wir nicht an Stoffarmut, bei uns gibt’s immer was zu drücken!

Vielen Dank für gar nichts !



Der Kontrollstaat und die Diktatur des Betrachters

Der folgende Text wurde im Rahmen der Ausstellung "Complete Control" im Kunstverein APEX e.V. in Göttingen vorgetragen. Weitere Infos unter:http://apex-pro-art.blogspot.com/ und unter http://www.apex-goe.de/ sowie im Göttinger Tageblatt.

Complete Control
Überwachung und freiwillige Selbstkontrolle

von Diego Castro und Chris Schindler

Im Zeichen der viel beschworenen Informationsgesellschaft ist die Konfrontation mit neuen Wegen der Information und deren Auswirkung auf private und öffentliche Räume eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen, denen die moderne Demokratie ausgesetzt ist. Zwei zentrale und miteinander konkurrierende Konzepte sind sicherlich die Begriffe ‚Freiheit’ und ‚Sicherheit’, deren herkömmlichen Definitionen zur Zeit durch die Ausformulierung einer neuen sicherheitspolitischen Agenda zur Disposition stehen.

Verhandelt werden hier in gleicher Form digitale und öffentliche Räume und deren Ausgestaltung.Eine Debatte, die nicht weniger als einen Kampf um Deutungshoheit darstellt.

Die Vielgliedrigkeit der Diskurse reicht von der zunehmend flächendeckenden Kameraüberwachung urbaner Konsumräume, digitaler Einflussnahme mittels Bundestrojanern über Städtebauliche Interventionen zur Regulierung öffentlicher Sicherheits- und Konsumzonen, bis hin zur Frage nach der richtigen strafrechtlichen Verfolgung von Sprayern, die sich außerhalb einer bananenfarbenen hochkulturellen Wärme bewegen.

Ein Phänomen von Kontrollnahme im öffentlichen Raum, das von vielen Menschen gar nicht erst wahr genommen wird, ist ein Interventionismus staatlicher aber auch verstärkt privater Natur. In der Städteplanung haben die letzten 15 Jahre extreme Entwicklungen zur polizeilosen Kontrolle von öffentlichen Räumen hervorgebracht.

Gated Communities bringen eine neue Segregation hervor, in der nicht mehr eine als problematisch empfundene Gesellschaftsschicht ghettoisiert wird. Hier bauen die Reichen sich selber Ghettos, die Trutzburgen gegenüber einer als konsequent bedrohlich empfundenen Aussenwelt darstellen.

Innerstädtische Bereiche werden zu Bannmeilen, die sich bei Krisenalarm in Minutenschnelle in Hochsicherheits-Sperrgebiete verwandeln. Befeuchtete Böden verhindern das Verweilen auf Plätzen, Anti-Kletter Farbe und Anti-Grafitti Farbe tun das Ihrige.
Unbeheizte Flure und lange Wartezeiten auf Sozialämtern sollen die Antragstellung auch körperlich unangenehm gestalten.

Die Mehrung von Schwarzlicht in den Hausfluren bei gleichzeitiger Einstellung von Methadonprogrammen zielt auf die Vertreibung von Drogenabhängigen ab.

In Einzelsitze unterteilte oder extrem schmale Parkbänke, auf denen man nicht liegen kann, sind Obdachlosen-feindliche Ungerechtigkeiten, die von den Betroffenen oft nur noch als unüberwindbares Schicksal hingenommen werden.

Mit der lakonischen Bemerkung, man könne ja doch nichts machen, erteilt man Initiative und Solidarität im vornherein einen Platzverweis. Dabei scheinen der undemokratische Charakter solcher Interventionen in einem Klima zu entstehen, das die Verordnung solcher Eingriffe in das öffentliche Leben, am Bürger vorbei, am Bewusstsein vorbei, einfach geschehen lässt und sie nur selten ins Zielfeld einer Kritik gelangen lässt, die aus einem Bürgerbewusstsein für das ensteht, was öffentliches Interesse überhaupt ist.

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung, die für den virtuellen Raum andere Gesetzmässigkeiten als für den realen Raum imaginiert, haben die jüngsten regulatorischen Entwicklungen im Cyberspace gezeigt, dass das Internet keinesfalls dem Mythos uneingeschränkter Freiheit und weltweiter Demokratisierung entspricht, von dem Howard Rheingold uns Anfang der 1990er Jahre noch etwas vorträumte.

Wie jeder öffentliche Raum im kapitalistischen System, ist auch der virtuelle Raum von Eigentums- und Kapitalinteressen betroffen, sowie er ebenso von Verboten und Ordnungsmassnahmen betroffen ist. Allem zuoberst steht der Kampf um den Schutz von Eigentum und anderen Partikularinteressen gegenüber dem allgemeinen öffentlichen Interesse. Hier stehen also Platzverweise, architektonische Massnahmen zur Verhütung unerwünschten Verhaltens, Gentrifizierung, Überwachungskameras, Securitas, Sicherheitszonen und biometrische Erfassung gegen Hooliganismus, Drogenabhängige und Obdachlose, gegen Hausbesetzungen, unerwünschte Einwanderer, politische Feinde und jegliche Infragestellung der bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse.

Im Cyberspace ist die Situation kaum anders. Auch der virtuelle Raum ist einer galoppierenden Kommerzialisierung und der Verwirklichung von Partikularinteressen ausgesetzt. In beiden Sphären kommt das Gesetz zum Tragen. Es ist heute, an die Stelle einer politischen Diskussion getreten, die der totalen Ökonomisierung der Räson gewichen ist, und in deren Diensten es die erwähnten Interessen reguliert oder aber dereguliert,um dem radikalen Markt freien Lauf zu lassen.

Im besonderen Masse ist hier in den letzten Jahren der Schutz der Urheberrechte zu einem Vorwand für die Ausbreitung des rechtlichen Geltungsbereichs der Unterhaltungsindustrie geworden; man erinnere sich an den Fall Metallica gegen Napster, eigentlich ein Fall der American Recording Industry Association gegen besagtes Peer-to-peer Netzwerk. Die Plattform der Napster-Community wurde zunächst mit Klagen zugedeckt, dann von Bertelsmann aufgekauft und schliesslich geschlossen.

Mit Abmahn-Terror grasen Herden von Winkeladvokaten die grossen rechtsfreien Räume des Internets ab, nach Ihnen kommen die Siedler und zäunen das Land ein. So markiert diese Entwicklung, die stets mit neuen Gesetzen auf dem sogenannten freien Markt ohnehin nur die Interessen der stärksten und somit einflussreichsten Kräfte des Marktes durchsetzt, eines der grossen Paradoxa des Neoliberalismus:

Die behauptete Demokratisierung des Marktes ist hier gleichzeitig Argument für Deregulierung und Regulierung, je nach Interessenlage. In diesem höchst komplexen Durcheinander von Nutzerfreiheit, politischer Steuerung und privatwirtschaftlicher Intervention tritt der Gesetzgeber zum einen als Steigbügelhalter für private Cowboys hervor, die wildes Vieh einfangen und mit ihren Brandzeichen versehen wollen, zum anderen nutzt er die neuen Möglichkeiten des vermeintlich rechtsfreien virtuellen Raums nicht nur als Transporter eines Regimes der Angst. Er nutzt die chaotische Struktur des Cyberspace in einer Weise, die impliziert, das Böse selbst käme aus den Informationsflüssen des Internet direkt durch die Kabel in unsere Wohnzimmer gekrochen. Hier entstehen in der Geschwindigkeit der High-Speed-Connections auch neue Gesetze und andere staatlich gelenkte Massnahmen, die den Kontrollbereich des hegemonialen Komplexes erweitern helfen, sei es zur Bekämpfung der Kinderpornographie, des Terrors oder der Internet-Piraterie. Allzu oft wird der Schrei nach mehr Sicherheit, nach mehr Kontrolle bereits von den Usern antizipiert, noch bevor die politischen Spindoctors sie für ihre populistischen Kampagnen verwertet haben.

Ein interessantes Phänomen ist neben dem sich gegenseitig potenzierenden Verhältnis von erhöhter Sicherheit und erhöhter Angst die zunehmende freiwillige Selbstkontrolle, abzulesen an der bereitwilligen Öffnung des letzten privaten Raumes, nämlich der eigenen Identität. Am Punkt, an dem im Rechtsstaat die staatliche Kontrolle oder die Kontrolle von Konsumenten an Ihre Grenzen stösst, springt der neue gläserne Mensch selbst mit Freiwilligkeit ein. Sowohl consumer-watch als auch die Rasterfahndung profitieren hier von einer Felxibilisierung der informationellen Selbstbestimmung und von arglosem oder fahrlässigem Hinterlassen kompromittierender Spuren.

Die zeitgeistige Enttabuisierung empfindlicher Informationen oder geheimster Gedanken, beispielsweise der sexuellen Präferenz, politischen Einstellungen und Konsumentengewohnheiten auf allgemein zugänglichen Internet-Plattformen kollidieren hier mit Individualisierungs- und Privatisierungsprozessen, die das alte Gouvernement protektionistischer Staatlichkeit auflösen und viele der bisherigen Kontrollmechanismen an die Privatheit überschreiben.

Die scheinbar harmlose Pflege digitaler Poesiealben wie Facebook oder MySpace markieren auf geradezu tragi-komische Weise wie der dirigistische Kontrollstaat im Prozess seiner Selbstauflösung zum einen an Kontrolle verliert und zum anderen seine -in den längst vergangenen Zeiten des Volkszählungsboykotts noch extrem schwierig durchzusetzenden Kontrollgelüste- gerade durch sein eigenes Verschwinden, mit grosser Effizienz den voluntaristischen Massen überträgt.

So findet die schwierige, arbeitsintensive und kostspielige Anhäufung massenhafter Daten Kraft der Plauderlaune und des Exhibitionismus von Usern statt und versorgt alle -vom amerikanischen NSA bis zum Personalchef bei der Deutschen Bahn AG- mit wohlfeilen Daten.

Das World Wide Web Consortium entwickelt derzeit einen Standard, „Semantisches Web" genannt, der solche Daten optimiert und auf Plattformen vereint. Der Bürger liefert durch seinen Gebrauch des Internet Daten aus dem Internet-Banking, von Treue- und Rabattkarten, Handyabrechnungen, Einlogg- Daten und nicht zuletzt durch Angabe weltanschaulicher Einstellungen oder durch ominöse Hobbys oder berufliche Profile, empfindliche Informationen, welche bei allfälliger Erfassung dem Generalverdacht zum Opfer fallen. Dieser Widerspruch stand bereits zu Zeiten Horst Herolds in Konflikt mit dem rechtsstaatlichen Grundprinzip der Unschuldsvermutung, da hier ggf. ohne einen Anfangsverdacht ermittelt wurde und wird.

Es bedarf kaum weiterer Erklärung, was ein solches Kotrollgebaren zum Beispiel für einen muslimischen Studenten der Ingenieurstechnik, für einen schwulen Lehrer oder aber für einen marxistischen Oberförster für Folgen haben könnte.

Gibt’s mich wirklich?
Während die nunmehr archaisch anmutende Rasterfahndung – ursprünglich eine aus polizeilicher Aporie geborene Erfindung aus dem deutschen Herbst- einem viel dichterem und effektiverem Netz privater Überwachungssysteme Platz macht, sucht die Staatsgewalt nach neuen Aufgaben: Bekämpfung von Gottesstaaten, Verkauf von Informationen an die Privatwirtschaft und Aufbau des Präventionsstaats.

Sobald der einstige innere Feind nach seiner Fantômas-Existenz allmählich durch den Spülsog zwischen Celler Loch und Mauerfall im Ausspülklo der Geschichte verschwunden war und die dritte Generation vielleicht wirklich nicht mehr war, als ein Film von Fassbinder, ereilt unsere Gesellschaft die Epoche des Generalverdachts.

Vigilantes durchstreifen Medien und Politik und sichern ihre Macht durch falsche Anschuldigungen der Anderen. Ausländische Arbeitnehmer werden zur Bedrohung nationaler Arbeitsplätze, Immigrantenkinder zum U-Bahn-Schlägern, Moslems zu Terroristen, Gewerkschaftler zu Konjunktur-Bremsern, Sozialhilfe-Empfänger zu Schmarotzern, Nachbarn, Familie, Girlfriends oder Boyfriends zu vertrauensunwürdigen Zielobjekten, die man mit dem Handy lokalisieren muss, vor Talkshow-Tribunale stellen muss oder von denen man gegen Geld oder Treuepunkte auf Facebook-Anwendungen herausfinden kann, was diese über einen denken, sich aber nicht trauen, es einem ins Gesicht zu sagen.

Das Anbieter-Phantom darf hier mittels einer eigens dafür entwickelten Anwendung für Mistrauen und Verlogenheit an einem Handel mit Konfessionen aus dem Unterhöschen auch noch Geld verdienen, beziehungsweise zum Nulltarif indiskrete demoskopische Informationen sammeln. Die Umkehrung dieses Phänomens ist übrigens der Verdacht, talentlose Normalbürger könnten zu "Superstars" werden. Immer gibt es bei der Quizfrage: „Gibt’s mich wirklich?“ auch etwas zu gewinnen.

Vom Platzverweis zur Abschiebung, von der Kundenkarte zur Schleierfahndung, von der Talkshow zur Hausdurchsuchung, vom Unterbindungsgewahrsam zur Friedensmission: die instituierenden Kräfte sind vom disziplinarstaatlichen Monopol befreit und dehnen sich auf das gesamte Leben aus.

Die Revolten von einst sind vergessen. Die Revolutionen von heute deregulieren nicht mehr die bürgerliche Normativität oder bekämpfen direktivistischen Kontrollstaat. Sie sind vielmehr integraler Bestandteil wirtschaftlicher Deregulierung, technologischer Erneuerung und politisch-moralischer Restauration geworden.

Die Ablösung von Protest als Inhalt des Rock’n’Roll zugunsten von Melancholie oder Sportivität in der sogenannten Independent-Musik ist Symptom einer Kommerzialisierung von Gegenkulturen, die scheinbar vergessen haben, warum es sie überhaupt einmal gab. Gefahr für die öffentliche Ordnung kann von ihnen heute nicht einmal mehr symbolisch ausgehen, dafür sorgen die ehemaligen Verkünder des medialen Rock’nRoll Circus, MTV und VIVA, die das einstige Versprechen, das Widerständige von Popkultur im großen Stil zu propagieren, längst gegen pädagogische Disziplinierungsprogramme ausgetauscht haben, denen immer das gleiche Schema zu Grunde liegt.

Als Beispiel sei hier das Sendeformat ‚MTV made’ genannt, in der jugendliche Aussenseiter unter dem Leistungsdruck des kapitalistischen Gesellschaftssystems ihr Leben verändern wollen, oder besser ausgedrückt: ihre Insuffizienz bezüglich der Anforderungen des Systems ausmerzen wollen, um besser gemäss der Logik des Systems funktionieren zu können. Dies zeigt sich in immergleicher Form: indem sie einen vermeintlich unerreichbaren Traum anstreben (z.B. ein übergewichtiges Mädchen will Cheerleaderin sein) und bis zur Selbstverleugnung an dessen Verwirklichung arbeiten. Der Weg dahin ist gepflastert von Training, Pünktlichkeit, Selbstdisziplinierung und dem ewig wiederholten Mantra, dass jeder seine Träume verwirklichen kann, wenn er nur hart genug daran arbeitet.


Selbst auf den ersten Blick anarchistisch gefärbte Formate, wie das selbstzerstörerische „Jack Ass“, indem die Protagonisten sich mit Absicht in möglichst schmerzvolle Situationen begeben, sind in der Endlosschleife nichts anderes als Voyeurismus und Placebo-Spektakel.

Egal, welche Bedürfnisse hier erzeugt werden, sei es der eben erwähnte Voyeurismus oder die Transformation von Überwachung in Exhibitonismus, wie beim sogenannten Unterschichten-Fernsehen (Talkshows, Big Brother, DSDS), eines fällt auf: Die Auflösung der Schamgrenzen. Es scheint, als habe der gelockerte Gürtel der Deregulierung die gesellschaftliche Hose endgültig zum Fallen gebracht und als ob die auf halb Acht hängenden Hosen der B-Boys nur eine Vorgeschmacklosigkeit waren, die eine Gefängnisrepressalie zur coolen und inhaltslosen Mode erhebt.(in amerikanischen Gefängnissen sind Gürtel verboten um Selbstmord vorzubeugen und die Gefängnishosen sind zu gross, damit der Gefangene nicht laufen, bzw. fliehen kann)

Wir können allerdings kaum davon ausgehen, dass die eingangs erwähnte freiwillige Herausgabe von Informationen lediglich auf eine semantische Übermacht des Informationsapparates oder auf eine hoffnungslose Ignoranz der User, der Bürger, zurückzuführen sei.

Die Frage, warum wir so gerne Auskunft über uns geben hat auch mit einem Misstrauen gegenüber den Medien selbst zu tun. Was sich hier zunächst paradox anhört, erklärt sich folgendermassen: Viele in unserem Kulturkreis haben ein durchaus distanziertes Verhältnis zu den Medien und relativieren vor diesem aufgeklärten Hintergrund, den tatsächlichen Wirkungsgehalt medialer Information. Die Verifizierbarkeit und die Relevanz der zugänglich gemachten Informationen werden hier, teilweise berechtigt, angezweifelt.

Nichts desto trotz macht sich in dieser Aufgeklärtheit eine Mentalität breit, die nicht mehr kategorisch den Eingriff in die Privatsphäre ablehnt, sondern den Nutzen einer solchen Entscheidung in die Waagschale wirft. Die Verhandlung der Unantastbarkeit des Privaten wird einer gewissen Ökonomisierung unterworfen. So wird durchaus manchmal in vollem Bewusstsein einer Schnüffelei stattgegeben, wenn es sich denn lohnt. Stichwort: Treuepunkte.

Die kategorische Ablehnung solcher Kontrolle war in den 80er Jahren in aufgeklärten Schichten gegen einen übermächtigen Staat gerichtet. Einmischung von Privatpersonen in anderer Leute Privatangelegenheit war etwas, was man eher in Form von Nachbarschafts- oder Familienstreit kannte. Mit der im Zuge der neoliberalen Reformen der 90er und 2000er Jahre vollzogenen Deregulierung staatlicher Kontrolle, bzw. mit der Weiterdelegierung von Teilen dieses Bereichs an die Privatwirtschaft, herrschte bei den angesprochenen Bevölkerungsgruppen oft eine positive Einstellung gegenüber der Privatisierung an sich vor, weil sie sich gegen die -aus Gewohnheit- verhasste Staatlichkeit wendete. Dieses erklärt übrigens auch die Transformation der Politik der Grünen Partei in eine neoliberale Agenda-Politik ab dem Kabinett Schröder (Beispiel Oswald Metzger, heute CDU).

Die Einsicht, dass es eine für die Demokratie und für den Rechtsstaat gefährliche private Einflussnahme gibt, welche eine Privatisierung der Politik anstrebt, ist ja eher neu. Ich denke hier zum Besipiel an die Rolle, die marktradikale Think-Tanks wie die Bertelsmann-Stiftung bei der Gestaltung der politischen Realität spielen. Diese baute Abhängigkeits- und Instrumentalisierungsverhältnisse zwischen der Stiftung und Politikern sowie den Medien auf, die sich als enorm effektiv erwiesen.

Besipiele für die Ergebnisse dieser Einflussnahme, sind die Einführung von HartIV, Einführung von Studiengebühren, die als Bolgna-Prozess bekannte anti-akademische Anpassung der Europäischen Hochschulen, sowie die Vorbereitungen zu einer Ökonomisierung des Schulwesens durch sogenanntes Controlling, zu denen auch die berühmt-berüchtigten PISA Studien gehören.

Ein weiteres prominentes Beispiel für ausser-gouvernementale Kontrolle ist die Initiative Neue Soziale Marktwirstschaft, ebenfalls Mitglied des Stockholm Networks, des Dachverbands marktradikaler Think-Tanks. Diese Organisation beeinflusst weite Teile des bürgerlichen politischen Spektrums, dessen Parteien es sogar direkt mit politischen Slogans versorgt, die quer durch das gesamte politische Spektrum, abgesehen von der Linken, wortwörtlich weitergegeben werden.

Noch dramatischer ist hier allerdings der Versuch, Medien, insbesondere das Fernsehen durch sogenannte "Medienpartnerschaften" zu kontrollieren. So fungiert die Organisation auch als Discount-Nachrichtenagentur, die finanziell unter Druck stehende oder unter Druck gesetzte Redaktionen mit propagandistischen und infiltratorischen Nachrichten versorgt, die ein positives Bild neoliberaler Reformen vermitteln sollen. Die INSM versuchte auch durch Anrufung des Presserates und durch Diffamierungskampagnen auf kritische Medien, wie zum Beispiel die Wochenzeitung "Freitag", Druck auszuüben.
Der krasseste bekannt gewordene Fall von Medienkontrolle fand wohl 2002 in der Jugendfernsehserie Marienhof statt: Die INSM zahlte 58.670 Euro an die ARD, um Dialoge platzieren zu können, welche "die eigenen politischen Ansichten zu Themen wie Wirtschaft, schlanker Staat, Steuern verbreiten sollten".


Angesichts derartiger Auswüchse, denke ich, ist es an der Zeit, an einem Bewusstwerdungsprozess zu arbeiten, der hilft, Kontrolle nicht mehr nur als eine vom Staat ausgehende Oppression zu begreifen, sondern überhaupt die Macht nunmehr als ein Ding zu verstehen, das im Begriff ist, privatisiert zu werden und sich so seiner Legitimität zu entziehen. Dieses bedeutet, dass wir von alten Bildern des Regimes Abschied nehmen müssen, die leider nach wie vor von Teilen der politischen Linke als ausschliessliches Feindbild wahrgenommen werden, was die politische Linke in den letzten Jahren auch sehr geschwächt hat. Und wir müssen uns auch eingestehen, dass einige der neuen gewonnenen Freiheiten, zum Beispiel Flexibilisierung, Enthierarchisierung und Deregulation auf dem Arbeitsmarkt die Kehrseite dieser vermeintlichen Selbstbestimmung hervorbrachten: die Auflösung der Privatsphäre, die Erhöhung der Kontrolle und des allgemeinen Drucks.


Wir befinden uns in einer Zeit, in der relative Freiheiten als Bonus einer einschneidenden Lenkung durch einen hegemonialen Komplex aus Wirtschaft und Staat gegenüberstehen.

Die Mittel ist hier sind erstens ein von der Obrigkeit ausgehendes Misstrauen, das den Bürger, den Arbeitnehmer, den Steuerzahler, den Arbeitslosen, den Ausländer, den Jugendlichen etc. vorab inkriminiert und so einem ständigem Druck aussetzt. Dieser Druck lässt sich sukzessive von einer instrumentalisierten Politk oder vom Markt direkt nutzen.


Zweitens werden hier Mittel wie Gentrifizierung, Kommerzialisierung, Kriminalisierung und Marginalisierung genutzt, um nicht gelenkte Communities unter Kontrolle zu kriegen. Das Ergebnis ist hier die Vereinzelung des Menschen, welche zwangsläufig zu seiner psychischen Prekarisierung führen muss. Dieser gibt sich dann, gepaart mit dem nunmehr Eigenverantwortung genannten Abschaffung sozialer Ansprüche, in einem Gefühl von Ohnmacht den Lenkungen der Obrigkeit hin.

Darüber hinaus wird das Misstrauen zu einem gesellschaftlichen Prinzip, was erneute Bildung von Communities erschwert: Niemand traut niemandem, der öffentliche Raum und die sozialen Beziehungen werden nur noch paranoid wahrgenommen. Dieser Faktor wird durch die Kontrolle der Medien, welche weitere Ängste schüren, noch verstärkt. Der berufstätige Mensch ist einer gesteigerten Kompetetivität in wandlosen Grossraumbüros mit verglasten Fassaden ausgesetzt. In Betrieben mit verflachten Hierarchien herrscht Intimitätsterror, der sich Transparenz nennt. Wer nicht chronisch berufstätig ist, untersteht der Kontrolle des Sozialamtes, die mittlerweile Patrouillen in die Privatwohnungen von Hartz IV-Empfängern schickt. Und als wenn das noch nicht genügen würde, infiltrieren die Medien mit dem spezifischen Unterschichtenfernsehen noch die Köpfe des abgehängten Prekariats mit den Ideen und Mythen der Leistungsgesellschaft, damit sich diese Menschen, bedrängt mit der protestantischen Ethik einer Arbeitsgesellschaft, die sich ihre Produktionsmittel in die dritte Welt outsourced, sich selber disziplinierend, die Schuld für ihre Misere nur und ausschliesslich bei sich selber suchen.

Das direkte Resultat aus den beiden zuletzt genannten Punkten ist einerseits die Otakuisierung einer gesamten Generation, deren borderlinige Exponenten die Unmöglichkeit zur Revolte nur noch als Amoklauf auszudrücken vermögen. Andererseits steht hier ein Rückzug aus gesamtgesellschaftlichen

Prozessen, aus den Ebenen der politischen Diskussion schlechthin, die von einigen Politikern und Demografen als "Politikverdrossenheit" lamentiert wird, in Wirklichkeit aber nur Teil eines Masterplans zur Auflösung der politischen Sphäre schlechthin.


Als ich diesen letzten Abschnitt schrieb, dachte ich bei dem Wort Bewusstwerdungsprozess unweigerlich an Rudi Dutschke. Er konnte damals noch nicht ahnen, in welcher Form die relativen Freiheiten, die Ent-tabuisierungen und die Entstaatlichung, die uns die 68er Bewegung ohne wenn und aber langfristig beschert haben, in welcher Form diese Freiheiten also zu einer Falle werden konnten. Wenn Dir ein "Superstar" im Fernsehen sagt, "Ich habe versucht, alles zu geben! Aber ich muss noch härter an mir arbeiten!" dann merkst Du sofort wie die Selbstbestimmung zur totalen Unterdrückung wird. Bewusstwerdungsprozess, das bedeutet für mich heute auch, bei der Verhandlung persönlicher Freiheiten auch Entsagung üben zu können, vor allem, wenn man sich klar darüber wird, dass die Bedürfnisse, denen man erliegt, natürlich künstlich sind und eine kleine Freiheit hier die grosse Versklavung dort bedeutet und die Schrittfolgen, die ich diesen, meinen Freiräumen performe vorbestimmt sind. Vielleicht ist das, was ich Freiheit nenne tatsächlich Selbstkontrolle. In diesem Sinne schliesse ich mit einem Zitat der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer: "Protect me from what I want!".


Der Innere Feind wird indes nicht mehr gesucht. Die Gefahr wird als von Außen kommend behauptet und wird eingeschleust. Als illegale Einwanderer, als ominöse Schläfer, als immaterielle Imame. Je abstrakter, je phantomhafter der Feind, umso größer die Angst und umso größer seine disziplinierende Wirkung. Vergessen ist fast schon das Phänomen der Anthrax-Briefe, ein biologischer Kampfstoff, dem 2001 fünf Menschen zum Opfer fielen und maßgeblich dazu beitrug ein Bedrohungspotential zu entwickeln, dass (in Kombination mit dem 11.September) in der Verabschiedung des Patriot Act in den USA mündete. Die Umstände dieser Anschläge wurden freilich nicht eindeutig geklärt, außer der Tatsache, dass es sich bei dem Urheber nicht um arabische Terroristen handelte, sondern wahrscheinlich um einen Angestellten eines Biowaffenlabors der Vereinigten Staaten. Trotzdem hielt dieser Umstand niemand davon ab, die potentielle Bedrohung eines imaginierten Bioterrorismus auf eine nationalstaatliche Bezugsebene zu hieven namens Irak...
Aber auch in der Bundesrepublik wurde im Zuge der Terrorbekämpfung beispielsweise das Datenmonstrum der schon erwähnten Rasterfahndung reaktiviert, um potentiellen Tätern auf die Spur zu kommen, indem z.B. Hochschulen nach den Datensätzen der immatrikulierten muslimischen Studierenden befragt wurden, die technikrelevante Studiengänge (z.B. Maschinenbau, Physik) studieren. Diese Praxis wurde nach der Klage eines marokkanischen Studenten 2006 zwar weitgehend eingestellt, ironischerweise kommen mittlerweile aber die selben Ermittlungsmethoden in der Bundesagentur für Arbeit zum Einsatz, wenn sogenannten „Sozialschmarotzern“ der Leistungsbezug gekürzt oder gestrichen werden soll. Das es offensichtlich nicht nur der Apparat ist, der bedrohliche Ausmaße annimmt, sondern dass es auch ein Personal gibt, das bereitwillig den Vollstrecker mimt zeigt auch ein aktueller Fall aus Göttingen, wo einem Sozialhilfeempfänger die Bezüge gekürzt wurden, nachdem ein Mitarbeiter der Behörde ihn beim Betteln gesehen hatte. Der Beamte ließ es sich nicht nehmen einen Blick in die Dose zu werfen und den ‚Tagesumsatz’ auf ein monatliches Gehalt (vermutlich inkl. Feiertage...) hochzurechnen, um anschließend die Bezüge des Mannes um über 100 EUR zu kürzen. Dieser vermeintliche Einzelfall beleuchtet eine Einsatzbereitschaft, die über das übliche Befehlsempfänger-Bewußtsein hinausgeht: Der Beamte vollzog diese Überwachungsmaßnahme unaufgefordert in seiner Mittagspause.


Dienstag, 11. August 2009

Castro spricht: München

Auf vielfachen Wunsch folgt hier der Text den ich am 8.7.2009 im Rahmen der oben genannten Veranstaltung in der Städtischen Kunsthalle Lothringer 13 gelesen habe. Initiiert wurde das Ganze von annette hollywood und Uli Aigner. Weitere Informationen hier: http://igbk.de/dateien/dokumente/de/existenzanalysen.pdf

Meine Damen und Herren,

ich bin hier geladen worden, um über den Versuch der Wiedererlangung von Diskurshoheit in Bezug auf die Kunstproduktion, aber auch in Bezug auf das künstlerische Selbstverständnis zu reden.

Dies geschieht erstens vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels, der innerhalb der Kunstvermittlung und der institutionell getragenen Diskurse stattgefunden hat. Hier fiel die Kritik im Zuge der zweiten Welle der Institutionskritik dem immer wiederkehrenden Schicksal anheim, von der Institution geschluckt zu werden und so selbst zum Bestandteil des institutionellen Diskurses zu werden.

Dieses würde ja an und für sich kein grosses Problem darstellen, vorausgesetzt, die Institutionen widmeten sich voll der Aufgabe, die Kunst zu repräsentieren und neue künstlerische Diskurse durchzusetzen. Dieses tun sie aber oft nicht bzw. nicht ausschliesslich.

Sie repräsentieren natürlich auch die Diskurse der bürgerlichen Kunstvereinsvorstände, der staatlichen Kulturpolitik mitsamt ihren Ideologien und politischen Agendas, der Sponsoren und des auf diese Weise institutionell verwobenen und abgesicherten Marktes. Wer sich hier auskennt, weiss von den synergetischen Effekten die sich Institution und Privatwirtschaft von der gegenseitigen Befruchtung versprechen.

Institution will hier demnach auch im weitesten Sinne verstanden werden: Das meint Ausstellungsorte, das meint die mediale Kunstkritik, den Markt mit seinen Katalysatoren Galerie und Messe und nicht zuletzt das Künstleratelier mit seiner spezifischen -angepassten oder widerständigen- Produktionsethik. Genauer gesagt, handelt es sich beim Begriff Institution im folgenden um den gesamten kulturökonomischen Komplex mit seiner dominanten, allumspannenden Logik. Meine Existenzanalyse sieht also die Produktion im Schatten ihrer Produktionsbedingungen .

Zweitens soll meine Existenzanalyse vor dem Hintergund stehen, welche Funktion dem Künstler heute gesellschaftlich beikommt. Der Künstler steht heute in einem kulturellen Kontext, der dem ihm wenig Spielraum für eine Rolle als öffentlicher Intellektueller lässt. Es handelt sich um einen Kontext, in dem die Kritik durch ihre institutionelle Endogenisierung zum integralen Bestandteil hegemonialer Dominanz geworden ist und in dem sich angesichts von Massenbohèmisierung und Individualismus, welche Symptome eines alles durchdringenden neuen Geistes des Kapitalismus sind, die soziale Funktion des Künstlers oder künstlerischer Handlungen auflöst. Längst ist die Magie künstlerischer Handlungen auf Ersatzhandlungen des Konsumkapitalismus verschoben und die Aura des Kunstwerks selbst institutionalisiert: Sie wird bis auf weiteres verpachtet an die Institutionen, die es ihrerseits schaffen, das Auratische, das Magische getrennt von der Kunst, durch ihre blosse Existenz hervorzubringen. Die von hier ausgehende Kühnheit, so magische Handlungen an die Massen administrieren zu wollen und die Institutionen, oder noch schlimmer, die hinter ihnen stehenden Sponsoren zu den neuen Magiern unserer Zeit erheben wollen, müssten den Künstler eigentlich Brechreiz verursachen. Hier ist der Künstler meiner Meinung nach dazu aufgefordert, sich gesellschaftlich neu zu verorten, alte Forderungen neu zu stellen und neue Strategien zu finden, die nichts mit der Neuerung, bzw. der Emanzipation der ästhetischen Erscheinungsformen zu tun haben, sondern eher auf die institutionellen und juristischen Rahmenbedingungen für Kunstproduktion und ihre Distributionsformen strategisch reagieren sollten.

Ich möchte zunächst auf die gesellschaftlichen Umstände verweisen, welche die eben angesprochenen Punkte hervorzubringen vermögen:

Europa und die westliche Welt sind ja erst Dank der Verlegung der fordistisch organisierten Produktionsarbeit in Schwellenländer dazu fähig, die Rolle der Arbeit neu zu reflektieren. Die Diskussionen um immaterielle Arbeit, Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen, Wissensgesellschaften, intellektuellem Kapital und auch die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen finden nämlich im white-collar Bereich, überspitzt ausgedrückt, in der Chefetage der Welt statt -nämlich bei uns und nicht auf den Phillippinen- wo als Sklaven gehaltene minderjährige Näherinnen uns diese Luxusprobleme erst ermöglichen.

Beflügelt von einer gehörigen Portion an Selbstbetrug und dem sich daraus ergebenden ungeheuren Glück, für sich entfremdetes Arbeiten und Klassenschranken innerhalb einer sozial mobilen Intelligenz scheinbar überwunden zu haben, machen sich entsprechende Mythen der Selbstbestimmung breit. Für den Künstlerstand waren die Probleme entfremdeten Arbeitens lange Zeit nicht relevant, schienen es doch der einzige Berufszweig zu sein, der von der Arbeitsteilung und den damit verbundenen Effekten, nicht betroffen war. Die Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln wurde in der Kunst ja lange mit einer intellektuell aufgeladenen handwerklichen Praxis beantwortet, die ein grosses Mass an Autonomie gewährte. Der Künstler vermochte sich durch diese Strategie über das Ständische und über gesellschaftliche Inpermeabilität hinwegzusetzen. Vielleicht hat der Verlust von Diskurshoheit auch etwas mit dem Verschwinden autonomer Arbeitsprozesse in der Kunst zu tun:

Die Trennung von Produzent und Produktionsmitteln und die Arbeitsteilung sind heute Realitäten, die wieder verstärkt auftreten. Ein Beispiel wären Tobias Rehbergers in Thailand gefertigte Skulpturen. Ein anderes, interessanteres, die Kunst eines Tino Seghal, die der Arbeitsteilung einen merkwürdigen, geradezu kuriosen Aspekt verleihen oder -etwas ärgerlicher- die Kunst eines Rirkrit Tiravanija, die ohne die Mitarbeit des Zuschauers gar nicht erst zustande kommen kann und eine Arbeitsteilung hervorbringen, die eher an den kollektiven Zusammenbau eines IKEA-Regals erinnern und auch eine ebenso uninteressante Erfahrung sind. Oder aber bei Christine Hill's Volksboutique, wo der Betrachter durch normatives Konsumentenverhalten angeblich Teil an einem künstlerischem Prozess hat und gleichzeitig einer aus Prekarität geborene Verzweiflungstat zu kulturalisieren hilft. Die partitipative Kunst der relationellen Ästhetik hat Blüten getrieben, über die an anderer Stelle noch zu diskutieren sein wird. Inwiefern die hier zu beobachtende Entfremdung der Arbeit symptomatisch oder ursächlich für den Verlust der Diskurshoheit ist, sei jetzt mal dahingestellt. Für mich waren diese Erfahrungen auf jeden Fall erstmal Grund, "nachzudenken, ob es so weiter gehen kann."

Während Kippenbergers gleich lautende Frage aus dem Lager der Malerei endgültig mit der Transformation des Absatzmarktes für Flachware in einen Wirtschaftsektor, der dem Immobilien-Markt sehr ähnelt beantwortet wurde, geriet die Malerei (mit der ich selbst meine Laufbahn begann) für mich in ein Abseits, in welchem dem Medium keine diskursive Kraft mehr innewohnte. Es blieben die performativen Formen, die sich ihrerseits ab den 1990er Jahren aber in Formen präsentierten, die Dinge versprachen, von denen ich ahnte, dass sie nicht eingelöst werden könnten. Einerseits weil sie keinen gesamtgesellschaftlichen Anspruch erhoben, aus der sich ihre Praxis ableiten liesse. Andererseits weil sie mit einer Pose daherkamen, welche Distanz ausschlossen: Sie erlaubte nur die Affirmation und war gegenüber ihren Rahmenbedingungen vierlerorts ebenso unkritisch.

Meine Zweifel beziehen sich hier auf einen hohlen, sinnentleerten und rekuperativen Emanzipationsgestus, der versprach, Entfremdung, Ausgrenzung und Singularisation zu überwinden, aber letzten Endes nur dabei half, die Institutionen als gesellschaftlichen Ort neu zu generieren und so dem Schrei nach höheren Besucherzahlen und dem Selbstdarstellungsdrang von Sponsoren zu entsprechen.

Darüberhinaus repräsentierte die relationelle Kunst oftmals eine Philosophie, die allzusehr den Firmenphilosophien moderner Dienstleistungsunternehmen entsprach.

In Ignoranz der Tatsache, dass im Post-Fordismus, zwei Arten von Emanzipation in eine Waage geworfen werden, deren Balance die Macht des Kapitals garantiert, übersieht der hier relative Freiheiten geniessende Mensch gerne, die strukturelle Entfremdung, der er ausgesetzt ist. Um diese zu erkennen, bedürfte es aber einer gewissen Distanz, wenn nicht gar des Aussteigertums. Und die ist hier oft nicht möglich. Ich sage das auch im Hinblick auf die Über-Gesellschaftlichkeit oder auch Nicht-Gesellschaftlichkeit der verschwundenen künstlerischen Avantgarden.

Für den Künstler -wie für den Arbeitnehmer- gilt im gleichen Masse: Um einen Blick auf dieses System, dass auf der einen Seite klassische Emanzipationsforderungen der Arbeiterbewegung ein Stück weit einlöst, also angepassten Lohn, Möglichkeit zur Sesshaftigkeit und Familienplanung, gesellschaftliche Stabilität und Sicherung des Arbeitsplatzes usw. und auf der anderen Seite generische Emanzipation ermöglicht, also Individualismus, Überwindung rigider Klassengrenzen, Selbstbestimmung, Flexibilität und verflachte Hierarchie, um dieses System also, dass die beiden genannten Formen von Emanzipation, nur in Wechselwirkung zu einander existieren lässt, sprich: mehr Individualismus - dafür weniger Sicherheit, um dieses System verstehen, oder überhaupt erkennen zu können, muss man sich ausserhalb der Reichweite seiner Logik aufhalten.

Das bedeutet sich ausserhalb der ursprünglich von Bismarck zur Abwendung von Revolutionen auf die Zivilgesellschaft übertragene preussisch-militärischen Meritokratie aufzuhalten, einerseits, und andererseits ausserhalb des konformistischen Individualismus stellen, also einem Individualismus, der nur in einem gewissen Spielrahmen gewährt wird und gedeihen kann, faktuell aber nicht wirklich vorliegt, da die Grenzen für ihn vorbestimmt sind, wie zum Beispiel in der interaktiven Kunst. Diese Form von eingelöster Emanzipation beschreibt einen Zustand, der niemals ohne Preis ist: Der Preis heisst hier: Relative Autonomie als Preis für die Abgabe der Diskurshoheit, relative Selbstbestimmung als Preis für Einbussen im Lohnanspruch oder Flexibilität als Preis für Instabilität usw.

Der Künstlerberuf ist gewissermassen die Verkörperung des bürgerlich-generischen Emanzipationstypus per se:

Das Anliegen bürgerlicher Kunst ist demnach selbstverständlich auch nicht die Befreiung der Arbeiterklasse oder die Beseitigung krasser Ungleichheiten, bzw. die Verteidigung kollektiver Formen von gesellschaftlicher Devianz. Im Gegenteil ist die einem radikalen Individualismus verschriebene Ungleichheit ihre Essenz: Nach der Verabschiedung einer überwiegend revolutionär ausgerichteten Avantgarde erfährt diese Differenz allerdings eine neue Akzentuierung. So wird bestenfalls die individuelle Differenz als Künstler- und Bürgerrecht verteidigt. Der so entstehende differenzkapitalistische Diskurs, findet seinen Platz, wo -gleich unter gleich- die Distinktion zum ökonomischen Zwang wird. Hier, wo die Ästhetik hervortritt und die Politik verschwindet, findet die Kunst des Spätkapialismus ihren Ort. Das Gewicht verlagert sich auf Formen der Selbsterfindung, die in popkulturellen Images kulminieren oder wo die Begegnung selbst zum Pop wird, also die Begegnung nicht inhaltlich aufgeladen ist, sondern von rein ökonomischem Wert ist. Die Begegnung selbst ist der Wert, der durch Differenzierungs- und Distinktionspotenzial an sozialem Kapital gewinnt. Auf ähnliche Weise denken sich auch einflussreiche Schwachköpfe wie Richard Florida, die Generierung kreativen Potenzials, ja gar einer kreativen Klasse. Ich zitiere Uwe Schütte über Benjamin von Stuckrad-Barre's Roman "Soloalbum": "Das System des Differenzkapitalismus hat nicht nur die popkulturell basierten Abgrenzungskonzepte assimiliert, sondern verdrängt und kolonisiert die Sphäre intellektueller Kritik, indem es eine systemimmanente, gleichsam tautologisch verpuffende Form der Dissidenz erzeugt."

Mit anderen Worten liegt hier eine Ökonomisierung der Differenz und der Kritik vor, die es dem Kapitalismus erlaubt, diese zu integrieren und letztlich gestärkt aus diesem Prozess hervor zu gehen. Herbert Marcuse hätte auch das wohl als repressive Toleranz bezeichnet. So finden wir heute in der marktmässig verankerten und institutionell abgesicherten Kunst Positionen vor, die mit einer Kritik aufwarten, die leider an ihren eigenen Distributionsformen krankt.

Die Tatsache, dass diese kritischen Positionen existieren und dass sie rezipiert werden, dass diese überhaupt Gegenstand aktueller künstlerischer oder kultureller Analysen werden können, verdanken sie dem Umstand, dass sie sich der gegenwärtigen kulturökonomischen Logik unterwerfen. Der Voluntarismus, den man hier walten lässt, ist natürlich graduell unterschiedlich und wird durch den wirtschaftlichen Druck, unter dem er entsteht, aufgewogen.

Dass derartige Zugeständnisse jedoch auf jeden Fall konditionierend wirken, brauche ich wohl kaum weiter zu erläutern. Nur so viel sei dazu gesagt, nämlich dass ich diese Anklage nicht auf die sich redlich bemühenden Künstler beziehe. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie unheimlich schwer es ist, in dem Gleichgewicht von relativer Autonomie und prekärem Lebensumstand, zu existieren. Meine Kritik ist Selbstkritik und gleichzeitig Systemkritik und meine Existenzanalyse versteht sich als Anregung dafür, gegen die Totalität des spätkapitalistischen Geistes anzugehen, der sich -wie schon Marx ahnte- in alle Gesellschaftsbereiche und somit natürlich auch in die Kunst zieht. Wir befinden uns in einem Kunstsystem, das genährt wird von den Existenznöten der meisten von uns Künstlern und belohnt wird mit der oft vorübergehenden Illusion im Kunstsystem seinen Ort zu haben. Ich bin für meinen Teil aber nicht mehr bereit, auf die Einlösung dieses Versprechens zu warten. Dazu aber später mehr.

Es sind freilich aber nicht nur die existentiellen Gefahren und Prekaritäten, welche bewirken, dass die Kunst immer wieder das Potenzials ihrer eigenen Widerständigkeit beschneidet und sich gewissen Normen unterwirft, die die Sichtbarkeit der eigenen Kunst im Meer der künstlerischen Positionen ermöglichen sollen. Der Wille sich den normativen Kräften des Kunstmarktes und diskursmässigen Standards zu unterwerfen, resultiert auch aus dem "Versprechen" des Kapitalismus. Er verspricht in seiner aktuellen Ausformung, dem Neoliberalismus, Chancengleichheit, Partizipation und Demokratisierung, verkauft mit der Sprache des Sozialisten, des Individualisten, des Utopisten oder des Anarchisten, ein fragwürdiges System individueller Freiheiten und sozialer Utopien.

Dafür werden strukturelle Ungleichheiten in Kauf genommen. Nur mal als Beispiel: Sie werden tausende künstlerische Positionen finden, die entweder Ungleichheiten auf den grossen Anderen verschieben, also die Kritik an Ungleichheit in die dritte Welt outsourcen oder aber im Bereich der political correctness und der Genderfrage ansiedeln. Ich will diese Standpunkte nicht kritisieren, denn sie behandeln sehr wichtige Themenbereiche. Ich benutze sie lediglich, um auf den Missstand hinzuweisen, dass sie vergleichweise wenige Künstler finden werden, die die Klassenfrage stellen. Ich könnte jetzt tun und zum Beispiel mal fragen, ob sich ein Arbeiter unter uns befindet...

Selbst wenn in jüngerer Zeit des Thema Prekariat bei einigen prekär lebenden Künstlern an Konjunktur gewonnen hat und diese in kleinen Zirkeln auch einem ähnlich lebenden oder akademischen Publikum präsentiert werden, so kann ich mich nicht entsinnen, in letzter Zeit eine institutionelle Ausstellung zum Thema gesehen zu haben. Ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass Sponsoren, Ministerien und Vorstände daran ein reges Interesse hätten, ausser vielleicht es käme etwas dabei heraus, à la Holm Friebe & Sascha Lobo mit ihrer Theorie der digitalen Bohème, wo Prekariat zur Selbstbestimmung umgedeutet wird.

Auf den zweiten Blick macht der Widerspruch der sich aus dem Verhältnis von Zwang und Versprechen also durchaus Sinn: Zunächst erscheint der Mythos einer enthierarchisierten und demokratisierten Kultur, welche sich angeblich durch Zugänglichkeit und Partizipativität auszeichnet, der Existenz realer struktureller Ungleichheiten zu widersprechen. Als Beispiel sei hier nur das Bildungsniveau als Indikator stratifikatorischer Rigidität genannt, die Adorno’s und Horkheimer’s These, dass die Kulturindustrie ihre Konsumenten immerwährend um das betrüge, was sie immerwährend verspreche, zu bestätigen scheint. Ebenso verhält es sich in diesem Zusammenhang mit der Gewährung relativer Freiheiten. Die Auflösung rigid-konservativer Formstrenge beinhaltet ja nicht zwingend die Aufhebung konservativer Inhalte oder gar die Auflösung der institutionellen Repression. Die hier stattfindende repressive Entsublimisierung dient mehr denn je dem Projekt ökonomischer und institutioneller Steuerung und Kontrolle.

Das immer wiederholte und immer wieder gebrochene Versprechen der neoliberalen «Kulturrevolution» wirkt natürlich systembestärkend: Die Ungleichheit wird scheinbar bekämpft, Entfaltungsmöglichkeiten angeblich aber glaubwürdig simuliert. Das System kann so nicht mehr der Ungerechtigkeit bezichtigt werden, es wird unangreifbar. Der ungleich Behandelte ist somit der sozial-darwinistischen Selektion ausgeliefert.

Die aus dem inneren Kreis der Frankfurter Schule stammende Analyse der Kulturindustrie als Formation eines dem Fordismus in seiner Entwicklung hinterherhinkenden Produktionsbereichs, der lediglich danach trachten würde, die angeblich fortgeschrittenen Produktionsweisen Taylors und Fords zu reproduzieren, dieser Analyse entgegnet eine andere Sichtweise (die post-operaistische Sichtweise), dass die Kulturindustrie im Gegenteil die neuere, post-fordistische Produktionsweise ideell, strukturell und praktisch antizipiert. Zentral für diese mittlerweile weit verbreitete Produktionsweise seien informelle Strukturen in zeitlichen, räumlichen und hierarchischen Abgrenzungen, die wir vorhin als „relative Freiheiten“ angesprochen haben. Diese setzen sich zusammen aus einer Offenheit für Improvisationen bzw. unvorhergesehene Effekte, sowie der Flexibilisierung traditioneller Arbeitsteilung. Beispiel: verflachte Hierarchien als strukturelle Massnahme vorgeblicher Selbstbestimmung. Kritik innerhalb dieser Strukturen wird keinesfalls mit Repressalien geahndet, sondern ist konsekutiv ein konstruktiver Bestandteil eines auf ständige Erneuerung zielenden, zukunftsorientierten Produktionsapparats. Hieraus ergibt sich auch die Attraktivität des Künslerberufs und seiner individualistisch-chaotischen Produktionsweisen für die Vertreter der Wirtschaft. Ich verweise nur mal auf das art, science & business-Stipendium im Stuttgarter Schloss Solitude.

Die Rolle der kritischen Kunst ist in dieser Relation indes zwiespältig. Wird sie toleriert, so könnte man mit Adorno und Horkheimer vermuten: „Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie Bodenreformer zum Kapitalismus.“ Diesem Dilemma ist die kritische Kunst ja, solange sie sich im institutionellen Rahmen bewegt, sowieso immer ausgesetzt.

Das Resultat ist, wie vorhin schon angesprochen, eine Kunst, die aufgrund ihrer Konzessionen gar keine andere Wahl hat, als sich einem schwachen, aus der Pragmatik und nicht aus der Ideologie abgeleiteten Kunstbegriff (siehe Diederich Diederichsen: Kunst und Nichtkunst, Eigenblutdoping, 2008) zu verschreiben, was auch der Erwartungshaltung des spezifischen Publikums entgegen zu kommen scheint: Wo früher dem reaktionären bürgerlichem Kunstdiskurs die Option blieb, sich vom Totalitätsanspruch anti-bourgeoiser Avantgarde-Kunst durch Denunziation der selben als Nicht-Kunst von den immanenten Forderungen nach Veränderung der Gesellschaft oder des Lebens zu distanzieren, so bleibt heute der selben reaktionären Kunstkritik die Option, sich gegenüber solchen Forderungen, dergestalt zu distanzieren, dass sie diese als "nicht mehr zeitgemäss" denunziert.

Basierend auf einer technokratischen Gesellschaftskonzeption, die technischen Fortschritt bejaht, jedoch sozial stagniert, gelingt es durch die besagte Argumentationstechnik, den modernen Antagonismus von Progression und Reaktion umzustülpen. Es geht dabei also um die Positionierung dessen, was fortschrittlich ist und was nicht. Die gesamte Konzeption der post-avantgarde Kunst (meint eine Kunst, die den Avantgardegedanken kategorisch ablehnt) basiert auf dieser Inversion. Das Aufgeben eines starken Kunstbegriffs, zugunsten einer pragmatisch orientierten, nicht-avantgardistischen und inklusionistischen Kunstpraxis, welche die spätkapitalistischen Momente von gesellschaftlicher Entspannung und technologischer Erneuerung affirmiert, steht im Schatten dieses Paradigmenwechsels. Hier entstehen, auch durch mangelndes Bewusstsein, Kunstdiskurse, die davon ausgehen, ein hohes Mass an Emanzipation sei bereits erreicht und innerhalb solcher gesellschaftlicher Sublimation gelte es nur noch, diese zu vernetzen. Die Utopie sei durch die Vernetzung schlechthin verkörpert. Ganz konkret beziehe ich das -schon wieder!- auf die intra-institutionelle partizipative Kunst der letzten 15 Jahre.

Ich stehe vor Ihnen als jemand, der zusammen mit einigen Kollegen auf die hier relativ ausführlich beschriebenen Zustände mit einer extrem simplen Strategie reagiert:

1. Dem Ausstieg aus jeglichen Zusammenhängen mit der Privatwirtschaft.

2. Der analogen Umsetzung digitaler Copyrights und Distributionsstrategien und somit die Subversion marktmässiger Interessen und Einschreibungen. Ich lese nun zum Abschluss einen Auszug aus einem Manifest der Immaterialistischen Internationale vor:

Der Immaterialismus wurde 2007 ins Leben gerufen. Angesichts der zunehmenden Prekarisierung der künstlerischen Produktion und des zunehmenden Verlustes an Diskurshoheit seitens der Künstler, in einer Realität der Produktion, die geprägt ist von Singularisation, Destabilisation, finanziellem Druck und einer allgemeinen Ökonomisierung des Kunstdiskurses an sich, angesichts eines hieraus resultierenden Volontarismus seitens der Künstler, die sich in Ihrer Rolle als Handlanger internationaler Geldwäscher, Fiskalverbrecher und Arschlöcher vom Dienst gefallen, Kunst aus den falschen Gründen, mit den falschen Mitteln an den falschen Orten betreiben, die künstlerische Kritik an Kuratoren und trendbewusste Schmierfinken monopolistischer und unerträglicher Kunst-Lifestyle-Blätter abgeben, sich in die Rolle als Illustratoren eines grössenwahnsinnigen und hochtrabenden Curator's Digest und allgemeinen Blendertums bestens einleben und die durch das Weiterdelegieren der eigenen Produktion, einem ausgewähltem Publikum zur Zelebrierung prekärer Arbeitsverhältnisse in Form des Spiels verhelfen, ANGESICHTS ALL DESSEN knallt die Faust der Immaterialisten auf den Tisch. Sie hat keine Blumen mitgebracht, denn für die Bösen, da gibt es kein Blumen. Da kommt die blanke Faust.

Die Immaterialistische Internationale sagt: Hört auf zu malen (und tut es auch wirklich)!

Vergesst Eure Copyrights und tretet Eure Karrieren in die Tonne!

Stellt keine Originale aus und gebt jedem, der will, die Gelegenheit eine Kopie zu besitzen, ohne dafür zu bezahlen.

Jeder kann eine immaterialistische Kunstsammlung haben. Alle Bilder sind frei!

Wie Kirche und Staat soll Kunst und Geld getrennt werden. Wenn das bedeutet, sich seine 10 x 10m grossen Leinwandbeklecksungen oder überkandidelten Überwältigungsinstallationen nicht mehr leisten zu können, dann sagt die Immaterialistische Internationale dazu: Drauf geschissen!

Die Welt sieht ohne Euren hässlichen und belanglosen, aus purer Raffgier künstlich aufgeblähten Schrott auch nicht schlechter aus!

Wenn Du als Künstler was zu sagen hast, dann sag es. Wenn Du es nur in einem schicken White Cube in intimidierender Grösse sagen kannst, dann ist das, was Du in Hochglanz sagst, wahrscheinlich selbstverliebter und heuchlerischer Müll.

Das einzig ehrliche was Du dadurch ausdrückst, ist das Du eine Produktionslogik und ein ökonomisches System vertrittst und verherrlichst, das wir Immaterialisten als Schweine-Kunstsystem bezeichnen und Du bist deshalb entweder Unbewusst, Ignorant oder ECHT ARM DRAN! Vielleicht bist Du aber auch nur eine echt miese Type, die freiwillig bei diesem Scheissspiel mitmacht...

Werde Immaterialist, bevor es zu spät ist!

Verabschiede Dich von Deinen Selbstverwirklichertum und verwirkliche die Kunst!

Es folgen die zehn Punkte immaterialistischer Arbeit:

1. Keine Ausstellungen in kommerziellen Galerien.

2.
Keine Ausstellungen in Institutionen, die von transnationalen Korporationen oder ähnlich dubiosen Firmen gesponsert werden.

3.
Originale Kunstwerke dürfen weder ausgestellt, verkauft oder sonstwie in Umlauf gebracht werden. Nur Kopien sind erlaubt.

4.
Es gelten keine Urheberrechte im herkömmlichen Sinne. Die gesetzliche Grundlage immaterialistischer Kunst ist das Creative Commons.

5.
Verkauf ist auch zum Selbstkostenpreis nicht erlaubt.

6.
Die Arbeit muss unter der selben Lizenz weitergegeben werden.

7.
Dienstleistungen und Aufführungen sind kostenlos. (Kein Eintritt)

8. Produktionsetats sind nur dann zulässig, wenn sie nicht an Bedingungen gebunden sind und einwandfreier Herkunft sind.

9.
Schmutziges Geld wird nicht angefasst.

10.N
ur die Sache zählt. Das Ego ist unwichtig.

11.
Die Produktionsmittel und der Arbeitsaufwand müssen mit der Distributionsform im Einklang sein. Kann etwas genauso gut und effizient auf einem Stück Papier gesagt werden wie auf einer Leinwand, muss die Wahl auf das Papier fallen. Grosse Formate sind generell ausgeschlossen.

12. Die einfachste Lösung ist die Beste.